Die Gleichstellung der Frauen im europäischen Verfassungsentwurf

Von Mercedes Mateo Diaz, Susan Millns

Dies ist eine gekürzte Fassung des Artikels »Die Rolle der Frau und die konstitutionelle Zukunft der Europäischen Union« in der Zeitschrift femina politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft. In der Ausgabe »Verfassungspolitik – verfasste Politik« 1/2004. Wir bedanken uns bei der Redaktion der femina politica für die Genehmigung des Zweitabdrucks.

Die Gleichstellung der Geschlechter stand in der Europäischen Gemeinschaft (EG) stets auf der Tagesordnung. Seit Inkrafttreten der Römischen Verträge sind insbesondere Fortschritte zur Gleichberechtigung und Gleichbehandlung von Frauen und Männern in der Arbeitswelt erzielt worden. Zudem hat sich das Streben nach einer Gleichbehandlung von Männern und Frauen rasant zu einer eigenständigen gesellschaftspolitischen Zielsetzung entwickelt. Anfänglich zielten Maßnahmen darauf, die Funktionsweise des Binnenmarktes zu verbessern wie z.B. der Anspruch, gleiche Arbeit unabhängig vom Geschlecht des Arbeitnehmers mit gleicher Bezahlung zu vergüten (heute Art. 141 EG-Vertrag, EGV, früher Art. 119 EWG-Vertrag). Diese eher wirtschaftlichen und wettbewerbstechnischen Überlegungen wurden zunehmend ergänzt durch Konzepte, welche die Gleichberechtigung der Geschlechter in den Blick nahmen. Das belegen zahlreiche Gender-Mainstreaming-Initiativen (Art. 2 und Art. 3 Abs. 2 EGV), die es sich zur Aufgabe gemacht haben zu untersuchen, inwiefern sich die Gleichstellungsfrage auf die Politikgestaltung auswirkt. Zweifellos findet ein Wandel statt, der zu einer Verbesserung der Lebensqualität für Frauen führen wird. Dennoch ist die Gleichstellung der Geschlechter noch nicht endgültig vollzogen. Weitere Maßnahmen sind notwendig, um die strukturellen Ungleichheiten im Geschlechterverhältnis zu beheben, wie z.B. Frauenarmut, anhaltende Ungleichheiten am Arbeitsplatz, ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen ebenso wie die horizontale und vertikale Strukturierung des Arbeitsmarktes. Des Weiteren bestehen Schwierigkeiten, mit denen sich Männer und Frauen gleichermaßen konfrontiert sehen, wenn es darum geht, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren. Aus diesem Grund muss sich die Entwicklung der ökonomischen Aktivitäten der Europäischen Union (EU) immer im Einklang mit einem umfassenden Engagement für – und Rücksichtnahme auf – die menschliche Entwicklung, soziale Gerechtigkeit und Gleichheit vollziehen. Es gibt keinen geeigneteren Augenblick, um sich mit dem gegenwärtigen Stand der Gleichstellung von Männern und Frauen innerhalb der Union auseinander zu setzen und Verbesserungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Die EU befindet sich an einem entscheidenden Punkt grundlegender Veränderungen.

Das Dossier # 12 befasst sich mit dem Zustandekommen der EU Verfassung und den Diskussionen, die sie ausgelöst hat sowie mit den Vorstellungen von einer europäischen Identität und was diese bestimmen könnte.

  1. EU-Verfassung und europäische Identität
  2. Von der Wirtschaftsgemeinschaft zum Nationalstaat?
    (Katharina Hamann)
  3. »Besser die als keine«
    (Sylvia-Yvonne Kaufmann)
  4. Demokratisierung der EU?
    (Norman Paech)
  5. Wofür dient eine europäische Identität?
    (Dr. Jochen Roose)
  6. Europas Suche nach einer kollektiven Identität
    (Anna Pollmann)
  7. Gleichstellung der Frauen im Verfassungsentwurf
    (Mercedes Mateo Diaz, Susan Millns)
  8. Gegen diesen EU-Verfassungsentwurf
    (Tobias Pflüger, MdEP)
  9. Die Militarisierung Europas
    (Redaktion Informationen zur Deutschen Außenpolitik)
  10. Flüchtlingsabwehr und Lagerpläne
    (Cornelia Gunßer, Flüchtlingsrat Hamburg)
  11. Fortress Eastern Europe
    (Laure Akai, Bez Granic (polnische Organisation »Ohne Grenzen«))
  12. Einmal Novi Sad und zurück
    (Suse Lang, D-A-S-H europe)
  13. Weiterführende Materialien

Vor dem Hintergrund globaler Entwicklungen, der Herausforderungen, die sich mit der Erweiterung von 15 auf 25 Mitgliedsstaaten im Jahr 2004 ergeben, sowie der Bemühungen um eine demokratische Legitimation, ist die EU in eine Phase konstitutioneller Reflexion, Erneuerung und Veränderung eingetreten. In diese Atmosphäre der Unsicherheiten und Chancen fiel die Entscheidung des Europäischen Rates einen Konvent einzuberufen, welcher sich mit der künftigen Entwicklung und Ausgestaltung der EU befassen soll – so die Erklärung von Laeken (2001) zur Zukunft der EU. [Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union. Anhang I zu den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Laeken, 14./15. Dezember 2001, SN 300/1/01 REV 1.] Inzwischen liegen die Ergebnisse der Konventsarbeit in Form eines Verfassungsentwurfs vor und bieten einen idealen Anlass, um sich mit den möglichen Auswirkungen des konstitutionellen Wandels für Frauen in der EU auseinander zu setzen. Grund genug also, den Verfassungsprozess aus geschlechterkritischer Perspektive zu hinterfragen.(1)

(1) Die Autorinnen haben sich zusätzlich intensiv mit dem Beitrag beschäftigt, den Frauen zur Debatte um die politische, institutionelle und rechtliche Entwicklung dieser Staatengemeinschaft leisten. Die empirischen Studien zur Beteiligung von Frauen im Verfasssungskonvent finden sich im Originalartikel.

Die Grundlagen der Gleichberechtigung in der EU

Die geschlechtsspezifischen Implikationen des Verfassungsentwurfs sind deswegen von Bedeutung, weil die Gleichstellungsmaßnahmen rechtlich bindend werden, sobald der Schlusstext von den Mitgliedstaaten ratifiziert worden ist. In dieser Hinsicht dreht sich die grundlegende Problematik um die Auswirkungen einer verfassungsrechtlichen Verankerung der Gleichstellungsrechte. Was ist angesichts der Tatsache, dass die EG bereits durch den EG-Vertrag und verschiedene Richtlinien eine Reihe von Gleichstellungsmaßnahmen initiiert hat, durch eine konstitutionelle Konsolidierung dieser Rechte zu gewinnen oder gar zu verlieren? Wird dieser Prozess am Ende zu einer größeren Gleichberechtigung der Frau innerhalb der EU führen? Die Chancen und Risiken lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Einerseits besteht der potenzielle Gewinn einer Intensivierung der Gleichstellungsmaßnahmen auf höchster verfassungsrechtlicher Ebene darin, dass ein Verstoß gegen diese Bestimmungen schwerwiegende Sanktionen nach sich ziehen kann. Andererseits jedoch besteht die Gefahr, dass die konstitutionell verankerten Maßnahmen hinter der Reichweite der bereits bestehenden Verordnungen des Europarechts zur Gleichstellung der Geschlechter zurückbleiben.

Eine genaue Prüfung des gesamten neuen Verfassungstextes im Hinblick auf die Frage der Gleichstellung von Frauen und Männern gelangt zu einem gemischten Resultat: Mit dem Verfassungsentwurf kam es weder zu einer Ausdehnung von Gleichstellungsnormen noch zu einer pauschalen Schmälerung der Gleichberechtigungsgarantien. Dass dieses Ergebnis erzielt werden konnte, sollte keinesfalls unterschätzt werden. Denn nach der anfänglichen Weigerung der Konventsmitglieder, Gleichheit als einen der Grundwerte der EU zu etablieren,(2) sah es lange Zeit so aus, als würden Gleichstellungsgarantien zurückgenommen. Zwar war Gleichheit indirekt in einer Reihe von Werten, die in früheren Phasen des Verfassungsprozesses mit der Achtung der Menschenwürde und der Grundrechte Erwähnung fanden, als Wert aufgenommen. Und auch in den verschiedenen Formulierungen zu den Zielen der EU und der Unionsbürgerschaft wurden Gleichberechtigungsansprüche festgeschrieben. Allerdings birgt das Versäumnis, Gleichheit als einen gemeinsamen Wert der EU einzustufen, auf symbolischer Ebene das Risiko, sie in ihrer Bedeutung zu schmälern und auf einen zweitklassigen Status zu reduzieren – zumal es sich hierbei um eine wesentliche Komponente der nationalen Verfassungstraditionen handelt. Zugleich hat die Klassifizierung der Gleichstellung der Geschlechter als Ziel und nicht als Grundwert erhebliche rechtliche Konsequenzen. Das betrifft primär die Kompetenz der EU, bei einer »schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat« (Art. 58) die betreffenden Mitgliedstaaten zu verwarnen und gegebenenfalls zu sanktionieren. Ist die Gleichheit nicht Bestandteil der in Art. 2 verankerten Grundwerte, ist die EU auch nicht befugt, sanktionierende Maßnahmen bei einem Verstoß gegen die Gleichstellung zu erlassen. Inzwischen gehört Gleichheit zu den in Art. 2 aufgelisteten Werten des endgültigen Verfassungsentwurfs. Dennoch: Die Tatsache, dass dieser Prozess so viel Zeit und Mühe in Anspruch genommen hat, belegt nicht zuletzt die mangelnde Wertschätzung, welche die Mitglieder des Konvents dem Ideal der Gleichheit im Allgemeinen und dem der Gleichheit der Geschlechter im Besonderen entgegengebracht haben.

(2) Sie werden in Artikel 2 des Gerüsts eines Verfassungsentwurfs vom 28. Oktober 2002 und in den Artikeln 1 bis 16 der am 6. Februar 2003 vorgelegten umfangreicheren Fassung beschrieben.

Die Kehrseite des Streits über die Frage der Gleichheit zeigt sich an der Verpflichtung des Konvents zur Gleichberechtigung der Geschlechter. Deren positive Aspekte zeigen sich zum einen in der Anerkennung, dass »die Gleichstellung von Frauen und Männern« eines der Ziele der EU darstellt (Artikel I-3 Abs. 3), und zum anderen in der Einbeziehung des Prinzips der Gleichberechtigung der Frau in Artikel III-2 der Verfassung (d.h. dem zweiten Artikel von Titel I im Teil III: »Allgemein anwendbare Bestimmungen«). Demonstriert wird damit – zumindest in der Theorie –, dass der Gleichstellung von Frauen und Männern in allen Politikbereichen der EU, wie sie in Teil III der Verfassung niedergelegt sind, Rechnung getragen wird.(3)

(3) Diese Bestimmung entspricht dem gegenwärtig geltenden Artikel 3 Abs. 2 EG-Vertrag, der nur für die Tätigkeit der EG (und nicht für die der Union) Anwendung findet. Der gewünschte Effekt der verfassungsrechtlichen Bestimmung besteht darin, die Reichweite des Prinzips der Geschlechtergleichstellung auch auf andere Bereiche der EU-Aktivitäten auszudehnen, insbesondere auf den der Außen- und Sicherheitspolitik ebenso wie auf die polizeiliche und juristische Zusammenarbeit bei der Verbrechensbekämpfung.

Das Gleichstellungsverständnis in der Verfassung

Darüber hinaus stellt sich die Frage, welchen Einfluss die Gleichheitsgarantien ausüben, die in der Grundrechte-Charta verankert sind. Als fester Bestandteil von Teil II des Verfassungsentwurfs untermauert die Charta die Verpflichtung der EU, für den Schutz der Grund- und Menschenrechte einzutreten. Dennoch bleiben Fragen zum dort verankerten Gleichstellungs- und Gerechtigkeitsverständnis offen: Gestaltet sie, wie vorgesehen, den acquis communautaire zugänglicher?(4) Verspricht sie eine Verbesserung oder gar eine Verschlechterung, was die Beseitigung der bestehenden Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern in der EU angeht?

(4) wörtlich: gemeinschaftlicher Besitzstand, er umfasst alle Rechten und Pflichten, die für die Mitgliedstaaten der EU verbindlich sind; zur genaueren Bedeutung des Begriffs innerhalb der EU

Zweifellos finden sich auf der Haben-Seite einige Formulierungen, die den bestehenden acquis fortschreiben. So gilt die Achtung der Menschenwürde in Art. II-1 als Grundlage für die Achtung der körperlichen Unversehrtheit der Frau und ist darüber hinaus für den Schutz der Frauen gegen körperlichen und seelischen Missbrauch von großer Bedeutung. Ebenfalls begrüßenswert ist die Tatsache, dass das Verbot des Menschenhandels in Art. II-5 Abs. 3 aufgenommen wurde. Unter dem Aspekt, dass Frauen verstärkt sexuell ausgebeutet und zur Prostitution gezwungen werden, kann diese Einfügung als ein Schritt in die richtige Richtung gewertet werden. Darüber hinaus ist die breit angelegte Verpflichtung zu gesellschaftlicher Solidarität von Bedeutung, wie sie in der Charta durch eine Reihe sozialer Bestimmungen zum Ausdruck kommt. Sie verfügen über eine geschlechtsspezifische Dimension und konkretisieren weitgehend den bestehenden acquis.(5)

(5) So etwa Art. II-31 Abs. 1 über das Recht eines jeden Arbeitnehmers auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen; Art. II-33 Abs. 2 über die Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben; Art. II-34 über soziale Sicherheit und soziale Unterstützung sowie Art. II-35 über das Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge.

Die Tatsache jedoch, dass die EU in den Bereichen Wohnungsbau, Bildung und Ausbildung sowie Gesundheitsversorgung lediglich über eingeschränkte Kompetenzen verfügt, lässt Zweifel an der Wirksamkeit und Effektivität dieser Verpflichtungen aufkommen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil damit viele dieser Grundsätze und Prinzipien durch die jeweiligen nationalen Gesetze gewissen Einschränkungen unterworfen sind.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass gerade Titel III der Charta, der ausdrücklich der Gleichheit vorbehalten ist, den vordringlichsten Anlass zur Sorge bietet. So mangelt es den Garantien zum einen an direkter Anwendbarkeit. Zum anderen sind sie eher als vorbereitende denn als rechtsverbindliche Maßnahmen ausgerichtet; und schließlich bleiben sie häufig hinter den bereits im EG-Recht verankerten Vorgaben zur Gleichstellung der Geschlechter zurück. Die erste Bestimmung, deren nähere Betrachtung in dieser Hinsicht aufschlussreich ist, findet sich in Artikel II-21 Abs. 1 Verfassungsentwurf. Er enthält ein allgemeines Nichtdiskriminierungsprinzip und ein Diskriminierungsverbot u.a. aufgrund des Geschlechts. Im Gegensatz zu den anderen Gruppen jedoch, die in Art. II-21 Abs. 1 Erwähnung finden, handelt es sich bei Frauen nicht um eine Minderheitengruppe. Aus diesem Grund wäre es konsistenter gewesen, der Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts denselben Rang einzuräumen wie der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art. II-21 Abs. 2), indem man ebenso für die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts einen eigenständigen Absatz vorgesehen hätte. Bedauerlicherweise wiederholt sich diese Privilegierung des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit auch in Art. I-4 Abs. 2 der Verfassung für Europa, ohne dass ein entsprechendes Verbot der Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts an dieser Stelle Erwähnung findet.

Selbstverständlich verfügt die Charta auch über einen Art. II-23, der ihre wesentliche Bestimmung bezüglich der Gleichstellung von Frauen und Männern darstellt. Allerdings handelt es sich um einen relativ schwachen Artikel. So bleibt der Wortlaut des ersten Absatzes »Die Gleichheit von Männern und Frauen ist in allen Bereichen, einschließlich der Beschäftigung, der Arbeit und des Arbeitsentgelts, sicherzustellen« hinter dem acquis zurück. Denn Art. 141 EGV fordert die gleiche Bezahlung für gleiche oder gleichwertige Arbeit und findet in Artikel III-108 der Verfassung seine Entsprechung. Im Vergleich dazu begründet das Gleichstellungsgebot der Charta nicht das Recht des oder der Einzelnen, sich auf dieses zu berufen. Vielmehr handelt es sich um eine allgemein gefasste Absichtserklärung, welche eher auf die Förderung der Gleichstellung von Männern und Frauen als allgemeines Ziel abstellt. Zudem bietet die Bestimmung des Art. II-23 Abs. 2 der Charta, welche die Möglichkeit konstruktiven Handelns vorsieht (eine an sich zu begrüßende Initiative), lediglich eine verwässerte Version seines in Art. 141 Abs. 4 EGV verankerten Gegenstücks. Indem der erste Artikel erklärt: »Der Grundsatz der Gleichheit steht der Beibehaltung oder der Einführung spezifischer Vergünstigungen für das unterrepräsentierte Geschlecht nicht entgegen«, räumt er lediglich eine Beeinträchtigung des Gleichstellungsprinzips ein. Damit aber bleibt der Grundsatz hinter der in Art. 141 Abs. 4 EGV verankerten Anerkennung zurück, dass es sich bei konstruktiven Maßnahmen um Mittel zur Förderung der grundlegenden Gleichberechtigung der Geschlechter handelt und nicht etwa um deren Beeinträchtigung. Darüber hinaus beschränkt Artikel II-23 Abs. 2 der Charta die Möglichkeit konstruktiven Handelns auf diejenigen Situationen, in denen eines der Geschlechter unterrepräsentiert ist. Im Vergleich dazu gestattet der EG-Vertrag solches Handeln auch dann, wenn es darum geht, Nachteile in der beruflichen Laufbahn zu verhindern oder zu kompensieren, und somit also implizit anerkennt, dass präventive Maßnahmen gerechtfertigt erscheinen können, selbst wenn keine Unterrepräsentanz eines der Geschlechter offenkundig ist. Die Tatsache, dass es in der Charta und im bestehenden EG-Recht zu einer Doppelung der Garantien zur Gleichstellung der Geschlechter kommt, erweist sich mitunter als ausgesprochen problematisch. Der Vorteil, welcher sich aus einer zusätzlichen Verankerung von Rechten in der Charta ergibt, entpuppt sich dann zum Nachteil, wenn deren Garantien hinter dem des acquis zurückbleiben. Die vorteilhaftere Formulierung der Rechte der Frauen im EG-Recht (d.h. im bestehenden EG-Vertrag oder im Fallrecht) läuft Gefahr, unsichtbar zu werden, was wiederum zu einem Rückschritt in der Frage des Menschenrechtsschutzes führen kann (Koukoulis-Spiliotopoulos 2002, 68).

Schlussfolgerungen

Insgesamt betrachtet ist es ein relativ spärlicher Gewinn, den Frauen aus dem europäischer Verfassungsprozess ziehen können. Diese Einschätzung betrifft nicht nur den Mangel an weiblicher Partizipation und Repräsentanz in den Institutionen. Sie resultiert auch aus einer geschlechterkritischen Analyse des derzeit aktuellen Verfassungstextes. Unbehagen stellt sich zudem angesichts des Befundes ein, dass die Problematik des (Un-)Gleichgewichts, der (Un-)Gleichheit und (Un-)Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern die Umsetzung zentraler Werte der Demokratie, Legitimität und Gleichheit, auf die sich die EU lautstark verpflichtet, unmittelbar einschränkt.

Für die Zukunft sollten die nötigen Lektionen aus dem Entscheidungsfindungsverfahren des Konvents gelernt und schnellstens umgesetzt werden. Prinzipiell bedarf die EU-Politik zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter eines umfassenderen Ansatzes, der alle Bereiche auf eine substanzielle und nicht etwa nur formale Art und Weise mit einbezieht. So muss beispielsweise auf technischer Ebene der Gebrauch einer geschlechtsneutralen Sprache in sämtlichen Dokumenten des Konvents und der EU in allen ihren Übersetzungen zur Routine werden. Auf inhaltlicher Ebene muss der acquis communautaire im Bereich der Gleichberechtigung von Frauen und Männern (insbesondere Art. 141 Abs. 4 EGV) sichergestellt und weiter entwickelt werden, anstatt ihn durch die zwar stärker präsenten, doch weniger gehaltvollen Gleichheitsgarantien der Grundrechtecharta zu marginalisieren. Auf Verfahrensebene muss die Umsetzung der Verpflichtung zu einer Gleichstellung der Geschlechter sowohl in Form harter als auch weicher Rechtsmaßnahmen gewährleistet werden, die nach einem konsequenten Gender-Mainstreaming-Prozess initiiert worden sind. Schließlich bedarf es eines eindeutigen Mandats, das ein höheres Maß an Beteiligung und Repräsentation von Frauen in den Gremien der Entscheidungsfindung und Politikgestaltung auf EU-Ebene als bindendes Recht verankert. Auf diese Art und Weise würde die Verpflichtung der EU zur Demokratie eine Untermauerung erfahren, wodurch die EU ihrem Ziel der verbesserten demokratischen Legitimität ein gutes Stück näher käme.

Aus dem Englischen von Katja Karau/ VIPWissenschaftsberatung

Links

Literatur

  • Koukoulis-Spiliotopoulos, Sophia, 2002: »Towards a European Constitution: Does the Charter of Fundamental Rights ’Maintain in Full’ the Aquis Communautaire?«.European Review of Public Law. 14. Jg. H. 1, 57-104.
  • Millns, Susan, 2003: »Unraveling the Ties that Bind: National Constitutions in the Light of the Values, Principles and Objectives of the New European Constitution«. In: Ziller, Jacques (Hg.): The Europeanisation of Constitutional Law in the Light of the Constitutional Treaty for the Union. Paris, 97-120.

Nächster Artikel: Gegen diesen EU-Verfassungsentwurf