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Heirat zwischen Arrangement und Zwang
von Siri Pahnke
Nach Angaben des »Fischer Atlas der Sexualität« sind heute noch etwa 60 Prozent aller auf der Welt geschlossenen Ehen nicht das, was man landläufig als »Liebesheirat« bezeichnen würde. Sie kommen nicht durch ein mehr oder weniger zufälliges Kennenlernen der Partner zustande, sondern werden durch Eltern oder Dritte arrangiert und haben vorrangig die soziale Verträglichkeit und ökonomische Absicherung der Ehepartner sowie der beteiligten Familien zum Ziel. Bei dem Ehepartner handelt es sich häufig um einen Verwandten, z.B. den Cousin/Cousine zweiten Grades, manchmal aber auch um einen völlig Unbekannten, der erst nach der Heirat kennen und vielleicht auch lieben gelernt wird. Diese Art von Arrangement lässt sich vor allem in traditionellen Gesellschaftsstrukturen wieder finden, in denen die Familie als wirtschaftliche Produktionseinheit und Ort sozialer Nähe und Sicherheit grundlegend für die Existenz jedes Einzelnen ist und der Staat keine oder nur wenig soziale Unterstützung und Absicherung bietet. Arrangierte Ehen in den MedienDas neue deutsch-türkische Kino thematisiert die arrangierte Ehe allerdings schon seit den 80er Jahren immer wieder auch im Migrationskontext und beschreibt die Gratwanderung von Türken und Türkinnen der zweiten Generation zwischen (vor)-islamischer Tradition und moderner Lebensweise, zwischen elterlichen Ansprüchen und eigenen Lebensentwürfen. |
Dossier #13: Ehe und Migration. Der privilegierte Status, den eine Ehe gewährt, geht einher damit, ihn nicht jedem und jeder einzuräumen bzw. einigen den Zugang zu erschweren. In Deutschland betrifft dies vor allem Partnerschaften, in denen einer der Partner nicht den deutschen Pass besitzt. » Gesamtes Dossier als PDF-Datei
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Hier wird deutlich, dass die Praktik der arrangierten Ehe keinesfalls der Vergangenheit angehört und tagtäglich auch in Deutschland praktiziert wird. Der Filmemacher Hark Bohm erzählt in seinem Film »Yasemin« (1988) eindrücklich, wie das junge deutsch-türkische Liebespaar Jan und Yasemin gegen die Tyrannei von Yasemins Vater kämpft. Dieser sieht in der Liebesbeziehung eine Gefährdung der Ehre(1) seiner Tochter, vor der er sie (so wie sich selbst und seine Familie) schützen will. Die Lösung sieht er in einer »ehrenhaften« Verheiratung in die Türkei. Im Gegensatz dazu organisiert sich die selbstbewusste Hauptdarstellerin Sibel in Fatih Akins Film »Gegen die Wand« (2004) selbst einen »Schein«-Ehepartner, um der Kontrolle ihrer Eltern zu entkommen und sie in dem Glauben zu wiegen, sie hätte durch die Heirat mit einem »Deutsch-Türken« eine gute Partie gemacht. Damit bleibt sie dem traditionellen Muster der arrangierten Ehe verhaftet, ohne sich diesem allerdings zu unterwerfen. Schon diese zwei Beispiele zeigen, welch unterschiedliche Ausprägungen die Praktik der arrangierten Ehe haben kann. In den deutschen Medien wurde in den letzten Jahren vor allem die Zwangsheirat als überspitzte Form der arrangierten Ehe thematisiert. Bei den Betroffenen handelt es sich zu großen Teilen um junge Migrantinnen aus islamischen Kulturkreisen, die gegen ihren Willen zur Ehe mit einem Landsmann gezwungen werden. Zwangsheirat wird in diesem Kontext vor allem als kulturelle Praktik thematisiert, die in einem patriarchalen Werte- und Machtsystem vor allem die Rechte der jungen Migrantinnen auf freie Partnerwahl und ein selbstbestimmtes Leben beschneidet. Obwohl zur Ehe bekanntlich Zwei gehören, gibt es so gut wie keine Informationen über die Situation zwangsverheirateter Männer, da diesen in patriarchalen Zusammenhängen selten eine Opferrolle zugesprochen wird. Mehr Rechte für Frauen2002 startete die Menschenrechtsorganisation TERRES DES FEMMES in Zusammenarbeit mit verschiedenen Beratungsstellen für Migrantinnen die Aufklärungskampagne »Stoppt Zwangsheirat – Nein zu Gewalt gegen Frauen«.(2) |
(1) Bei der Ehre handelt es sich um ein hochkomplexes Moralsystem, dass das Verhalten zwischen den Geschlechtern und Generationen strukturiert. Wer darüber mehr erfahren möchte s.h.: Schiffauer, W. (1983): Die Gewalt der Ehre. Erklärung zu einem türkisch-deutschen Sexualkonflikt. Frankfurt am Main.
(2) Eigentlich verstößt eine Zwangsheirat bereits gegen die UN Menschenrechtscharta. Im Artikel 16 Absatz 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 heißt es: »Eine Ehe darf nur im freien und vollen Einverständnis der künftigen Ehegatten geschlossen werden.« Wenn einer der beiden Ehegatten also nicht seine freie Zustimmung zur Trauung gegeben hat, ist dies bereits eine Menschenrechtsverletzung. Zwangsverheiratung ist ein weltweites Phänomen. Weltweit kommen jährlich Millionen solcher Zwangsehen von minderjährigen Mädchen und Jungen zustande. Das ist ein eklatanter Verstoß gegen die UN-Konvention über die Rechte des Kindes – eine moderne Form der Sklaverei, wie die UNICEF 2001 erklärte.
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Nach Schätzungen der Organisation werden jährlich ca. 30.000 junge Migrantinnen in Deutschland gegen ihren Willen von ihren Eltern und Verwandten verheiratet. Für das Land Berlin wurde für das Jahr 2002 die alarmierende Zahl von 230 Fällen von erzwungener Ehe ermittelt. Neben dem Anliegen, das Tabuthema der Zwangsheirat überhaupt publik zu machen, war es Ziel der Kampagne, die Regierung dazu zu bewegen, Zwangsheiraten als Menschenrechtsverletzung gesetzlich anzuerkennen. Bisher wurden unfreiwillig geschlossene Ehen als kulturbedingtes, innerfamiliäres Problem behandelt, welches nicht in den Aufgabenbereich des Staates fällt. Zu den grundlegenden Werten der deutschen Gesellschaft gehört die Möglichkeit eines gleichberechtigten und selbstbestimmten Lebens. Deshalb ist es Aufgabe der Politik, Migrantinnen vor frauenfeindlichen kulturellen und traditionellen Praktiken zu schützen, statt sich in »blinder« Toleranz zu üben.(3) |
(3) Terre des Femmes e.V. (Hg) (2002): Zwangsheirat. Lebenslänglich für die Ehre. Schriftenreihe NEIN zu Gewalt gegen Frauen. Menschenrechte für die Frau. Tübingen.
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So wichtig es ist, diese Form der Menschenrechtsverletzung zu thematisieren und zu bekämpfen, so wichtig ist es, die Praktik der arrangierten Ehe und ihre verschiedenen Ausprägungen differenziert zu betrachten. Nicht jede arrangierte Ehe ist eine Zwangsheirat und nicht alle türkischen Frauen sind Opfer patriarchaler Familien- und Gesellschaftsstrukturen. Die Einmischung der Eltern in die Partnerwahl der Kinder wird nicht zwangsläufig als Beschneidung der Individualität der Heiratswilligen interpretiert, sondern durchaus auch als Unterstützung bei einer schwierigen und bedeutenden Entscheidung empfunden. Arrangierte Ehen implizieren nicht per se eine Abwesenheit von Liebe zwischen den Ehepartnern und es besteht für die Heiratswilligen sehr wohl die Möglichkeit, ihren Ehepartner selbst auszusuchen und ihn im Nachhinein von den Eltern absegnen zu lassen. Außerdem zeigt sich, dass das System der arrangierten Ehe, als Informations- und Vermittlungsnetzwerk von Familie und Verwandtschaft gerade auch in der Migration als Möglichkeit genutzt wird, passende potenzielle Ehepartner kennen zu lernen. Siri Pahnke hat Soziologie und Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig studiert. Literatur:
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Letzte Änderung: 2005-05-22 22:55:56 | info@d-a-s-h.org Impressum |