Everyone is an expert! Jeder Mensch ist ein Experte!

von Daniela Schmohl

Die Internet-Datenbank expertbase sollte illegalen Migrantinnen und Migranten Zugang zum regulären Arbeitsmarkt verschaffen. Mehr als eine Vermittlungsagentur war das Projekt aber eine radikale Kritik der Einwanderungsdebatte und der ihr innewohnenden Verwertungslogik.
Mittlerweile hat sich das Projekt weiterentwickelt und setzt nun den Schwerpunkt auf die medientechnische Begleitung antirassistischer Arbeit, um so jederzeit, an jedem Ort, jedem Menschen uneingeschränkte Kommunikation zu ermöglichen.

Armado Rodrigues’ Zündapp-Moped illustriert jedes Schulbuch der Geschichte: Das Symbol der Mobilität erhielt der Zimmermann 1964 als symbolischen Dank an die eine Million Gastarbeiter, die bis dahin nach Deutschland gekommen waren. »Ohne die Mitarbeit der Ausländer«, so erklärte ihm bei seiner Ankunft 1964 auf dem Kölner Bahnhof der Vorsitzende des Arbeitgeberverbandes, »wäre unsere wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre nicht denkbar gewesen.« Zehn Jahre später gab es keinen Arbeitskräftemangel mehr. Hatten »Ausländer« bis dahin als Gast-Arbeiter gegolten, so erhielt der Begriff in der Zeit heraufziehender Massenarbeitslosigkeit zunehmend die Bedeutung einer volkswirtschaftlichen Belastung. Was in den Zeiten des Fließbandes Arbeitskräftemangel und Gastarbeiter waren, sind in der Informationsgesellschaft der »Fachkräftemangel« und die »Experten«. Obwohl sie so wenig deutsch sind wie »Ausländer«, gelten »Experten« nicht als Belastung, sondern als Angehörige einer internationalen Elite, die es an den Standort Deutschland zu locken gilt, damit die heimische Wirtschaft Anschluss an den Weltmarkt halten kann. 10500 dieser raren Spezialistinnen und Spezialisten konnten bislang gewonnen werden. In der gleichen Oktoberwoche des Jahres 2001, in der Arbeitsminister Walther Riester verkündete, weitere 10000 »Experten« müssten angeworben werden, stellte der Innenminister der gleichen Regierung ein umfangreiches Gesetzespaketes mit ausgesprochen restriktiven Kontrollmechanismen gegen »Asylbewerber« und »illegale Einwanderer« vor. Letztere Begriffe bezeichnen heute an Stelle der inzwischen »integrierten Ausländer« den Kostenfaktor, zu dem sich noch erschwerend kulturelle Andersartigkeit und sicherheitspolitische Gefahren gesellen.

»Experten« oder »Illegale«

Die aktuelle Einwanderungsdebatte hat das Ziel, zu einer Migrationspolitik zu kommen, die der Spannbreite von anzuwerbenden »Experten« bis abzuwehrenden »illegalen Einwanderern« und »Asylbewerbern« Rechnung trägt. »Migrationssteuerung« ist das Schlüsselwort, die »Erfordernisse des deutschen Arbeitsmarktes« der Prüfstein jeder Regelung. Das Primat des Ökonomischen heißt für die Migrantin und den Migranten: soziale Anerkennung, Mobilität und Möglichkeiten, die in Deutschland zu genießen sind, hängen vom aktuellen Tauschwert der eigenen Arbeitskraft ab. Für die In-Wert-Setzung alles entscheidend ist dabei die »Steuerung«, die sich subjektiv als Verzicht auf Autonomie übersetzt: Wer einen Lehrgang in Datenverarbeitung und eine Greencard in der Tasche hat, wird zum aufenthaltsberechtigten »Experten«, während der ungefragt die Grenze überquerende Informatiker nicht Informatiker, sondern »Illegaler« wird.

Mit der Illegalität straft die Migrationspolitik die autonome Mobilität der Arbeitskraft durch radikale Entwertung. Jede Kompetenz, Erfahrung und Ausbildung, die sonst in Bewerbungsunterlagen aufzuführen ist, wird mit der Ankunft in Deutschland auf Null gesetzt. Die »Illegalen« sind verwiesen in die Sphäre informeller Ökonomie, in der die Mechanismen sozialer Wertschätzung nicht gelten. Beruf: Illegaler. Sans papiers (ohne Papiere) ist das prägende Identitätsmerkmal von, so wird geschätzt, 1,5 Millionen Arbeiterinnen und Arbeitern in Deutschland. Dabei entstammen die insgesamt wenigen Migrantinnen und Migranten, die eine Reise in das europäische Zentrum finanzieren können, in der Regel den gebildeten und ökonomisch potenten Mittelschichten: die »Illegalen«, eine post-industrielle Reservearmee?

»Wir brauchen weniger Ausländer, die uns ausnutzen und mehr, die uns nutzen«. Das gnadenlos kapitalistische Credo der Einwanderungsdebatte, wie es der bayrische Innenminister Günther Beckstein zusammenfasst, lehnen Kirchen, Menschenrechtsorganisationen und Linke prinzipiell ab. Während Migrationspolitik primär ökonomisch bestimmt ist, argumentieren ihre Kritikerinnen und Kritiker vor allem politisch und sozial. Die Katholische Bischofskonferenz weist auf die Fürsorgepflicht hin, die es dem Staat verbiete, Menschen medizinische Versorgung zu verwehren. amnesty international und Pro Asyl klagen mit den linken Antirassismusgruppen die Menschenrechtsverletzungen an, die der Staat bei Abschiebungen und Abschiebehaft begeht. Sie fordern die Ausstattung der »Illegalen« mit den gleichen politischen und sozialen Rechten, wie sie deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger genießen.

Dossier #9: Prekäre Arbeit und Migration

  1. Prekäre Arbeit und Migration
  2. Lebens- und Arbeitsverhältnisse von MigrantInnen in Deutschland
    (Silke Veth und Florian Weis )
  3. Partner in der Arbeitswelt
    (Klemens Büsch)
  4. »Wir sind unter euch«
    (Katharina Hamann)
  5. Rechtlos auf Arbeit?
    (Norbert Cyrus)
  6. »Einen Monat hab ich gearbeitet und keinen Lohn erhalten.«
    (Gerda Heck)
  7. Jeder Mensch ist ein Experte!
    (Daniela Schmohl)
  8. HANDS ON WORK
    (Edith Kleinkathöfer, Woge e.V.)
  9. Links

expertbase.net

»Jeder Mensch ist ein Experte« war vor diesem Hintergrund zunächst ein Datenbankprojekt. Es sollte Menschen im Asylverfahren, die bis vor kurzem in Deutschland noch mit einem generellen Arbeitsverbot belegt waren und bis heute Landkreisgrenzen nur mit einer Ausnahmegenehmigung überschreiten dürfen, eine Möglichkeit anbieten, sich mit ihren Kenntnissen und Fähigkeiten vorzustellen und auf diesem Wege soziale Achtung zu erringen, welche ihnen Institutionen und informelle Ökonomie systematisch verweigern. Die Idee war, Menschen, die vom offiziellen Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, eine Gelegenheit zu bieten, sich mit ihren Erfahrungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten selbstbestimmt präsentieren zu können. Und das, ohne sie immerfort auf die Rolle als Opfer von Unterdrückung und Verfolgung zu reduzieren und zudem um Menschen miteinander in Kontakt zu bringen, die über die unterschiedlichsten, breit gefächerten Kompetenzen verfügen oder nach solchen suchen.

»Jeder Mensch ist ein Experte 1.0« ist hervorgegangen aus der Installation expertbase, die im Herbst 2001 von Aktivistinnen und Aktivisten aus dem Spektrum der Kampagne kein mensch ist illegal in Zusammenarbeit mit der internationalen Netzkünstlerin Shu Lea Cheang entwickelt wurde. Sie wurde zum ersten Mal im Rahmen des Münchner Medienfestival Make World(1) präsentiert. In der Folge wurde die expertbase im Zusammenhang mit verschiedenen Ausstellungsprojekten (z.B. BIG Torino, Tactical Media Lab, Amsterdam, MACBA, Barcelona) und Konferenzen (u.a. in New Delhi, London und Berlin) realisiert.

(1) Dokumentation über das make-world festival in München – 18.-21. Oktober 2001, Fotos zur Aktion

Der Anspruch von »everyone is an expert« lag in der radikalen Abwehr hegemonialer rassistischer Diskurse: In der Öffentlichkeit hat sich die Entscheidung in »integrierte« und »integrationsunwillige Ausländer« durchgesetzt. Nachdem in speziellen Wirtschaftszweigen ein Arbeitskräftebedarf deutlich wurde, unterscheidet man zusätzlich in »illegale Einwanderer« und »Experten«. Während Asylsuchende und OhnePapiere dabei als Angehörige einer homogenen Masse konstruiert werden, die über keine Bildung, keine Arbeit, keine Fähigkeiten verfügen, zeigte expertbase dagegen Menschen in ihren subjektiven Erfahrungen und Kenntnissen. Die Macherinnen und Macher verstehen expertbase als multifunktionales Projekt. Und es kann durchaus gleichermaßen als Dienstleistung, politisches Statement und als Netz-Kunst im besten Sinn angesehen werden.

Inzwischen konzentriert sich das Projekt expertbase neben dem englischsprachigen Internetauftritt auf die mediale Unterstützung antirassistischer Initiativen und Aktionen und ermöglicht damit die uneingeschränkte Kommunikation.

»Jeder Mensch ist ein Experte 2.0« besteht nun aus einem Kleintransporter, der mit mobilen Audio- und Videoschnitteinheiten, Mischpulten, Soundsystem, Servern, einem drahtlosen Internetzugang sowie einer Satellitenanlage ausgerüstet ist. So kann auch an Orten, an denen unter normalen Umständen keine Netzverbindung möglich ist, mithilfe des Expertenmobils ein Internetzugang hergestellt werden. Diese Verbindung via Satellit wird dann sowohl zum Senden als auch zum Empfangen von Daten mit hoher Bandbreite und Qualität verwendet.

Zum Einsatz kam das Expertenmobil 2003 u.a. in Barcelona, Genf und Timisoara und im Internationalen antirassistischen Grenzcamp in Frassanito, Italia. Hier begann ein internationales Expertenteam mit Feldforschung und der Veröffentlichung der Ergebnisse im Netz(2) praktisch in Echtzeit: Interviews mit illegalen Einwanderern, die eben angekommen waren oder sich schon seit längerer Zeit in der örtlichen Agrarindustrie verdingten, Gespräche mit den Mitarbeitern der Grenzpolizei, Porträts von örtlichen Menschenrechtsaktivisten, die sich seit Jahren um die Aufklärung mysteriöser Flüchtlingsdramen und Havarien auf hoher See bemühen, Diskussionen von Netzaktivisten und Medienkünstlern, die sich um Sinn und Zweck von Interventionen im Grenzbereich zwischen Kunst, Kultur und Politik drehten.

(2) Siehe expertbase-Site und die offizielle NoBorderCamp-website

Die Logbücher des Expertenmobils sind Audio- und Videoreportagen im Internet, Livestreams, vernetzte Talkshows, DJ- und VJ-Sessions mit Mitwirkenden aus der Nähe und der Ferne. Die Erfahrungen aus den Testfahrten des Expertenmobils werden in den Wintermonaten systematisch ausgewertet und zur Grundlage für die Planung einer großen Tour entlang der neuen EU-Außengrenzen ab Mai 2004.

Links zum Artikel:

Reader zum Forum Migration & Arbeit von »jeder mensch ist ein experte!«

Anlässlich des vierten antirassistischen Grenzcamps in Frankfurt am Main erschien die Expertenzeitung, die sich mit einzelnen Aspekten der Migrationsdebatte im Sommer 2001 befasste: 5 Millionen Illegale in der europäischen Union gelten als Beleg für das Versagen der herkömmlichen Migrationspolitik – das Antirassismus Büro Bremen gibt eine Einschätzung der Lage. Die AktivistInnen von Kanak attak! stellen ihre Position zur Legalisierung und Einwanderungsdebatte vor. Die Berliner Osteuropagruppe wirft einen Blick auf die Auseinandersetzungen um die EU-Erweiterung in Osteuropa, während im Artikel zu »eBorder« Spekulationen über ein postmodernes Grenzregime angestellt werden. Weitere Beiträge befassen sich mit der Rolle der US-Gewerkschaften bei den Kämpfen Illegaler um ihre Rechte, die Forderung nach Greencards für Hausangestellte und Prostituierte wird gestellt und mit New Actonomy werden neue Formen von vernetztem Aktivismus vorgestellt.

Im Juni 2002 fand in Hamburg das Forum »Arbeit und Migration« statt. Ziel der Veranstaltung war es einen Diskussionsrahmen zu schaffen, der die soziale Dimension der Kämpfe um das Recht auf Freizügigkeit in den Mittelpunkt stellt. Texte der TeilnehmerInnen des Forums und andere relevante Texte wurden archiviert. Es existiert auch eine weitere Textsammlung.

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