Medienarbeit und politische Sozialisation Jugendlicher

von Fred Schell

Sozialisation als wechselseitiger Prozess von Aneignung und Gestaltung gesellschaftlicher Realität

Mit Sozialisation bezeichnet man den Prozess des Hineinwachsens eines Individuums in die Gesellschaft, in der es lebt. Hierzu gehört die Vermittlung und Aneignung von Wissen, Normen und Werten in Institutionen der Bildung und Erziehung wie z.B. in der Schule, was auch als formelles Lehren und Lernen bezeichnet wird. Hierzu gehören aber auch die Prozesse informellen Lernens in der Familie, in der Clique, bei Aktivitäten in der Jugendarbeit, beim Fernsehen oder beim Surfen im Internet usw. Auch dort wird Wissen angeeignet, werden Normen und Werte angeboten und vermittelt. In einem lebenslangen Prozess setzt sich das Individuum mit den in formellen und informellen Strukturen angebotenen Informationen, Normen und Werten auseinander, übernimmt diese in das eigene Verhaltens- und Handlungsrepertoire, verändert sie oder verwirft sie.

Dossier #14: Medien bestimmen unseren Alltag. Aber wann haben wir die Möglichkeit, Einfluss darauf zu nehmen, worüber in den Medien berichtet wird und auf welche Art und Weise oder mit welchen Mitteln das geschieht? Die Antwort ist klar: selber machen!

  1. Aktive Medienarbeit gegen Ausgrenzung
  2. Aktive Medienarbeit
    (Günther Anfang)
  3. Politische Sozialisation Jugendlicher
    (Fred Schell)
  4. Ein eigenes Medienprojekt planen
    (Kathrin Demmler)
  5. Sozialpädagogisches Handeln gegen Rechts
    (Katharina Hamann)
  6. Interview mit rossiPress Weimar
  7. Spielfilmarbeit mit jugendlichen Strafgefangenen
    (Reinhard Nolle)
  8. Materialien

Diese ständige Auseinandersetzung mit der Gesellschaft in der näheren und weiteren Umgebung, alleine oder zusammen mit anderen, macht das Individuum zum gesellschaftlichen Subjekt: es eignet sich die Gesellschaft an und gestaltet diese durch die aktive und handelnde Auseinandersetzung mit ihren Ausprägungsformen gleichzeitig mit. Medien sind heute ein wesentlicher Bestandteil unserer Gesellschaft und spielen eine bedeutende Rolle bei der Vermittlung von Informationen, Werten und Normen. Die gesellschaftlichen Subjekte übernehmen jedoch nicht einfach das, was die Medien ihnen bieten, sondern ordnen mediale Informationen in ihre gesamten Erfahrungen ein, bewerten, übernehmen, verändern oder verwerfen sie, was wiederum auch Rückwirkungen auf die Medien selbst und ihre Angebote hat. Dieses gegenseitige Verhältnis von Medien und Subjekt bezeichnet man als mediale Sozialisation.(1)

(1) Vgl. dazu Schorb, Bernd: Sozialisation. In: Hüther, Jürgen / Schorb, Bernd (Hrsg.): Grundbegriffe Medienpädagogik. München 2005. S. 381 – 389.

Politische Sozialisation und die Rolle der Medien

Auch politisches Wissen, politische Einstellungen, Meinungen, Normen und Werte bilden sich im Prozess der Sozialisation heraus. Gerade bei der politischen Sozialisation spielen die Prozesse informellen Lernens eine besondere Rolle. Vor allem in der Familie werden politische Grundhaltungen, insbesondere das Interesse an und Einstellungen zur Politik aufgebaut. Mit zunehmendem Alter spielen die Clique, aber auch die Medien eine größere Rolle. Letztere haben dabei unterschiedliche Rollen(2):

(2) vgl. ebd.

Medien sind zum einen Faktoren politischer Sozialisation. Sie informieren über politische Ereignisse, setzen politische Themen und lassen andere weg, legen mit der Art ihrer medialen Aufbereitung und mit ihrer Kommentierung bestimmte Lesarten politischer Ereignisse und Entwicklungen nahe usw. Im Sinne des wechselseitigen Verhältnisses von Subjekt und Medien gilt auch hier, dass der/ die einzelne die medialen Botschaften auf der Basis der eigenen Erfahrungen, dem eigenen Wissen, den eigenen Einstellungen und Werthaltungen auswählt, überprüft und entsprechend dem eigenen Wissens- und Verhaltsrepertoire zuordnet. Eine kritische Beurteilung und Bewertung entsprechender Informationen, Meinungen, Kommentare, Werthaltungen usw. setzt allerdings ein hohes Maß an eigenem politischen Wissen und eigener Erfahrung mit Politik voraus. Darüber hinaus ist dafür Medienkompetenz notwendig, d.h. hier Wissen darüber, wie Medien Informationen und Meinungen sammeln, medial aufbereiten und präsentieren.

Medien sind zum zweiten Mittler politischer Sozialisation. Hierunter versteht man alle Medien, die für den Zweck der politischen Bildung in Schulen, Hochschulen und in der Erwachsenenbildung hergestellt und eingesetzt werden. Auch hier gilt, dass die Subjekte diese für den Lernprozess aufbereiteten Informationen entsprechend ihren eigenen Erfahrungen und Einstellungen auswählen, bewerten und zuordnen. Je mehr Medienkompetenz sie besitzen, um so leichter gelingt ihnen eine kritisch-reflexive Haltung gegenüber diesen Informationen.

Medien sind zum dritten Instrumente im Prozess der Sozialisation, worauf im Folgenden näher eingegangen werden soll. Medien lassen sich (nicht nur) durch Jugendliche als Mittel zur selbstbestimmten und kritischen Auseinandersetzung und Artikulation mit und in der sozialen und politischen Realität nutzen. Heranwachsende sind durch ihre Fähigkeiten als menschliches Wesen, durch ihr bereits erworbenes Wissen und durch Erfahrungen aktive Subjekte mit eigener gesellschaftlicher Gestaltungs- und Handlungsfähigkeit. Somit ist auch der Umgang mit Medien kein einseitiger Prozess. Medien können nicht nur genutzt werden, um sich mit den angebotenen Inhalten auseinander zu setzen und sich Wissen, Werte und Normen anzueignen, sie können auch selbst in Anspruch genommen oder gestaltet werden, um eigene Ansichten, Meinungen, Interessen u.ä. auszudrücken und sich damit in die gesellschaftliche Kommunikation einzumischen. Dies gilt natürlich auch für politische Themen und Zusammenhänge. Mit der eigenen Gestaltung medialer Produkte zu gesellschaftspolitischen Themen und Fragestellungen (Video, Audio, Multimedia) oder der aktiven Nutzung medialer Netzwerke zur Information, zur Kommunikation, zum Austausch von Erfahrungen oder zur Verbreitung eigener Anliegen in politischen Kontexten erfolgt eine handelnde Auseinandersetzung mit Aspekten politischer Realität, die sowohl eigene Lern- und Erfahrungsprozesse als auch die Beeinflussung und Mitgestaltung der entsprechenden politischen Themenfelder ermöglicht. Medien sind hier Mittel politischer Sozialisation.

Selbstbestimmt und mit kritischer Distanz können Medien erst dann genutzt werden, wenn die nötige Kompetenz im Umgang mit den jeweiligen Medien vorhanden ist. Diese Medienkompetenz wird im Prozess der aktiven Mediennutzung durch zunehmendes Wissen und reflektierte Erfahrung angeeignet. Der Aspekt von Medienkompetenz, der hier gemeint ist, bezeichnet die Fähigkeit und Fertigkeit, Medien aktiv als Kommunikationsmittel nutzen zu können. Hierzu gehören die Fertigkeit, mit Medien als technische Geräte (Hard- und Software) umgehen zu können und Fähigkeiten, Medienstrukturen kreativ nutzen und Medienprodukte gestalten zu können. Voraussetzung für letzteres ist, die Gestaltungsmittel einzelner Medien, ihre jeweilige ’Sprache’ verstehen und anwenden zu können.

Die aktive Nutzung von Medien (aktive Medienarbeit) als Mittel der politischen Sozialisation hat verschiedene Zielbereiche, die sich wie folgt unterscheiden lassen:

  • Medien als Mittel der Erforschung politischer Themen und Zusammenhänge
    Der Schwerpunkt der aktiven Mediennutzung besteht hier darin, einen (gesellschafts)politischen Sachverhalt zu erkunden, zu erfassen und zu bewerten, was dieser Sachverhalt mit den eigenen Interessen, Einstellungen und Werten zu tun hat, einen eigenen Standpunkt zur Sache zu finden und diesen argumentativ vertreten zu können. Wer einen Videofilm, einen Audiobeitrag, ein multimediales Produkt oder eine Internetseite beispielsweise zum Thema Fremdenfeindlichkeit oder Rassismus oder den Auswirkungen von Hartz IV auf Arbeitslose erstellt, muss sich intensiv mit der jeweiligen Thematik auseinandersetzen, in der Literatur, im Internet, bei Institutionen, Politikerinnen und Politikern, Betroffenen recherchieren, den eigenen Beitrag strukturieren, die eigene Meinung begründen usw. Hierin liegt eine große Chance für politische Lern- und Erfahrungsprozesse.
  • Medien als Mittel der Artikulation politischer Anliegen
    Schwerpunkt aktiver Medienarbeit ist hier die Artikulation eigener Sichtweisen, Anliegen und Interessen in Bezug auf politische Sachverhalte. Im Vordergrund steht hier die Absicht, sich mit eigenen Standpunkten mit Hilfe von Medien (Foto, Audio, Audiovision, Video, Multimedia usw.) bzw. in zugänglichen Medien (Internet, Offene Kanäle, freie Radios usw.) in die öffentliche politische Diskussion einzumischen oder eine alternative Meinung zu der in den lokalen, regionalen und überregionalen Massenmedien oft einseitigen Berichterstattung zu vertreten. Beispiele in Brandenburg, bei denen, angeregt durch ein Projekt, Gruppen Jugendlicher in verschiedenen Städten und Gemeinden mit Hilfe von Video und Audio den Spuren des alltäglichen Rassismus in Sprache und Verhalten nachgingen, belegen eindrucksvoll, dass Jugendliche über Medien öffentliche Diskussionen zu wichtigen Themen anzetteln und maßgeblich führen können. Auch der Radiobeitrag einer Jugendgruppe in einer privaten lokalen Radiostation über mangelnde jugendpolitische Aktivitäten einer oberfränkischen Kleinstadt hat bewirkt, dass sich der Gemeinderat intensiv mit dieser Frage auseinandergesetzt und Maßnahmen eingeleitet hat.
  • Medien als Mittel zum örtlich und zeitlich ungebundenen Erfahrungsaustausch und zur Organisation gemeinsamer politischer Aktivitäten
    Schwerpunkt aktiver Medienarbeit ist hier die Kommunikation über politische Themen und Sachverhalte über Medien unabhängig von Zeit und Raum, um Interessen und Erfahrungen auszutauschen und gemeinsame Zielsetzungen über Medien und durch reale Treffen zu verfolgen. Dieser Zielbereich ist eng mit dem Medium Internet verknüpft. Die europäische Plattform D-A-S-H ? für Vernetzung | gegen Ausgrenzung ist ein Beispiel dafür, wie das Medium Internet als Instrument für mediale und reale Aktivitäten Jugendlicher gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus über Grenzen hinweg genutzt werden kann. So haben z.B. deutsche Jugendliche einen intensiven Kontakt zu serbischen Jugendgruppen aufgebaut, um gemeinsam den Kampf gegen rechtsradikale und nationalistische Gruppen in beiden Ländern zu führen. Neben gegenseitigen Besuchen tauschen die Gruppen regelmäßig ihre Erfahrungen und Materialien über das Internet, speziell über die Plattform D-A-S-H aus.
  • Medien als Mittel der Analyse und Kritik politischer Inhalte massenmedialer Produkte
    Schwerpunkt aktiver Medienarbeit ist hier das Durchdringen des Gegenstandsbereichs massenmediale Produkte in Bezug auf problematische politische Inhalte und deren Verpackung durch medienspezifische Gestaltungsmittel. Auch hier sei ein Beispiel erwähnt: Eine Gruppe des Antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin e.V. (apabiz) analysiert seit einiger Zeit die Entwicklung der rechtsextremen Musikszene in der Bundesrepublik. Die Ergebnisse sowie aktuelle Ereignisse werden auf einer eigens eingerichteten Internetseite veröffentlicht, die von D-A-S-H unterstützt wird. Hier können nun auch andere Jugendliche ihre Erkenntnisse zu rechtsradikaler Rockmusik einstellen. Die Seite dient inzwischen Jugendlichen, interessierten Eltern und professionell Erziehenden als Nachschlagewerk für rechte Rockmusik. Hier kann man sich kundig machen, um zu vermeiden, dass rechtsextremistische Rockgruppen zu Konzerten eingeladen werden oder mit Jugendlichen, die diese Musik hören, in Diskussionen einzutreten.

Schlussbemerkung

Aktive Medienarbeit bietet für die politische Sozialisation Jugendlicher viele Chancen. Jugendliche lieben Medien und sie sind in der Regel gerne bereit, sich aktiv mit ihnen auseinander zu setzen, wenn sie dies selbstbestimmt und kreativ machen können. In der aktiven Medienarbeit werden Wissen und Handeln aufeinander bezogen und die Medien werden als etwas Gemachtes und Machbares erfahren. Medienkompetenz wird hier in aktiver Form aufgebaut. Und – was für Lern- und Sozialisationsprozesse nicht unerheblich ist – aktive Medienarbeit macht Spaß, auch wenn sie oft harte Arbeit ist und Ausdauer, Konzentration und Frustrationstoleranz erfordert.

Dr. Fred Schell ist Geschäftsführender Direktor des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis
Arbeitsschwerpunkte: Fortbildung, Methoden der Medienpädagogik, Modelle zur Förderung von Medienkompetenz

Kontakt:
JFF
Pfälzer-Wald-Straße 64
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Literatur:

  • Schell, F. (2005): Aktive Medienarbeit. In: Hüther, Jürgen / Schorb, Bernd (Hrsg.): Grundbegriffe Medienpädagogik. München. S. 9 – 17
  • Schorb, B. (2005): Sozialisation. In: ebd. S. 381 – 389

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