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Spielfilmarbeit mit jugendlichen Strafgefangenen
Von Reinhard Nolle
Ein medienpädagogisches Forschungsprojekt zur Gewaltreflexion und interkulturellen Annäherung in der schulischen und außerschulischen Bildung Mit einer Gruppe von 10 jugendlichen Strafgefangenen (Alter: 19-24 Jahre; Haftzeit: 3-9½ Jahre) werden seit Mai 2001 in der Justizvollzugsanstalt Wiesbaden im Abstand von vier bis fünf Wochen Medienworkshops in prozessorientierter Spielfilmarbeit durchgeführt. In dieser Zeit entstehen Kurzspielfilme auf der Grundlage selbst geschriebener und erlebter Geschichten der Gefangenen zu vorgegebenen Themen, wie Gewalt, Drogen, Sucht, Mitgefühl, Stolz, Beziehungen etc., die auf den biografischen Alltagserfahrungen und Taten der Teilnehmer basieren. Die Tathintergründe sind Mord, Raub, Handel und Konsum von Drogen, Körperverletzung, Einbruch. Bei fast allen Taten spielen Drogen und Alkohol eine relevante Rolle. Die jugendlichen Gefangenen arbeiten acht Tage lang ohne Pause in einem sehr intensiven Teamprozess, der unter Zeit- und Produktionsdruck steht, da sie am Ende der 90 Stunden Teamarbeit vor 100 Mitgefangenen der JVA den fertigen Spielfilm vorführen und diskutieren müssen. Ziel der pädagogischen Arbeit ist es, die Veränderung persönlicher Einstellungen und Wertehaltungen, Sozial- und Empathieverhalten sowie neue soziale und empathische Erfahrungen langfristig zu festigen. Das Projekt wird gefördert im Rahmen des Bundesprogramms »ENTIMON – gemeinsam gegen Gewalt und Rechtsextremismus« durch das Bundesfamilienministerium. Prozessorientierte SpielfilmarbeitDie prozessorientierte Spielfilmarbeit knüpft an Alltags-, Kindheits- und Taterfahrungen der jugendlichen Straftäter an. Sie stellt als Schlüsselmotivation eine Film- und Fernsehkompetenz in den Mittelpunkt und verzichtet bewusst auf technische Bedienkompetenz. Zu vorgegebenen Schwerpunktthemen, wie Gewalt, Rassismus, Toleranz, Eitelkeit, Mitgefühl etc., schreiben die Teilnehmer selbst erlebte Geschichten auf, keine adaptierten Themen aus dem Fernsehen, keine Fantasiegeschichten. Aus den Schlüsselworten und Handlungsfragmenten der einzelnen Geschichten wird eine gemeinsame Geschichte entwickelt. Die gemeinsame Geschichte hat mindestens so viele Sprechrollen, wie es Teilnehmer gibt. Dann werden Rollen besetzt. Danach werden die Dialoge von den jeweiligen »Schauspielern« gemeinsam geschrieben, die auch später gemeinsam im Set vor der Kamera spielen werden. Hinzugefügt werden fiktive Elemente als dramaturgische Mittel, um Rhythmus und Spannung zu erzeugen. Die Charaktere können verändert werden, nicht aber der Hintergrund der Geschichten. Der Gebrauchs- und Mitteilungswert einer Spielfilmproduktion sagt nur wenig über die Prozesse und Veränderungen der Teilnehmer während der gemeinsamen Arbeit aus. So ist es selten, dass die Zuschauer in gleicher Art und Weise wie die Teilnehmer berührt aus einer Präsentation wieder herausgehen. Ziele des ProjektesIm Kontext der oft traumatischen Kindheits- und Jugenderfahrungen der jugendlichen Gefangenen muss das Projekt sich erst einmal bei den Teilnehmern für eine Bereitschaft zum Aufbau von Normalität und friedlichem Zusammenleben in toleranter rücksichtsvoller Gruppenatmosphäre einsetzen. Wichtig dabei sind grundlegende friedliche Orientierungen zur Lösung von Gruppen- oder individuellen Konflikten und Ereignissen, die eine immer wiederkehrende Verankerung auf das gemeinsame Ziel fokussieren: das Gefühl »sicherer« Gemeinsamkeit, aufgehoben sein, sich zeigen zu dürfen mit seinen Gefühlen und peinlicher Vergangenheit und den Leiden emotionaler Verlassenheit in einer Strafanstalt. Die Struktur der Gruppe und ihre inneren Regeln (Schutzraum für die Teilnehmer; außerhalb des Raums wird nichts weitererzählt) fördern stabilisierende Erklärungs- und Verhandlungsprozesse zwischen den Teilnehmern über ihre Alltagserfahrungen, Familiengeschichten, Taten, persönlichen Einstellungen und Wertehaltungen. Diese Prozesse basieren in ihrem Kern auf metatheoretischen Reflexionsprozessen und haben die persönlichen Themen, individuellen Erfahrungen, Interessen und Einstellungen der Teilnehmer zum Schwerpunkt. Diese Prozesse in Gang zu setzen und Einstellungen zu verändern, ist das wichtigste Ziel des Projektes. Die Rolle der Pädagogen in Projekten prozessorientierter SpielfilmarbeitDie Sozialarbeiter, Lehrer oder Medienteamer sind verantwortlich für die technisch dramaturgische Qualität des Films. Kamera, Ton und Bildschnitt liegt in ihren Händen. Die Arbeit erfolgt immer in großen Zeitblöcken. Ideal sind acht bis zwölf Tage an einem Stück. Die Teilnehmer sind verantwortlich für ihre Geschichte, ihre Dialoge, ihr Schauspiel, Präsentation und Diskussion. Die Betreuer helfen dramaturgisch und sprachlich beim Drehbuch. Die technisch dramaturgische Umsetzung des Drehbuchs in einen Spielfilm – Regie, Kamera, Ton, Licht – leisten die Betreuer oder Medienteamer. Die Teilnehmer übernehmen dabei Assistenzarbeiten bei Kamera, Licht und Ton sowie in der Postproduktion am Computerschnittplatz, bei der Auswahl der Szenen, vor allem aber bei der Auswahl der jeweiligen Filmmusiken. Die Präsentation der FilmeDer Spielfilm muss in dem vorgegebenen zeitlichen Rahmen von 8 Tagen präsentierbar fertig werden. Die sog. Vorabend-Soaps sind dabei Vorbild für den technisch dramaturgischen Standard. Dadurch entsteht ein Zeit- und Produktionsdruck. Der Ernstcharakter wird spürbar. Am Ende des Workshops, der von Montags bis Montags durchgeführt wird, findet eine Präsentation vor 100 Mitgefangenen statt, vor denen sich niemand blamieren will sowie vor Gästen von außen. Am Ende werden die »Filmemacher« vorgestellt und in einem Feedback diskutieren sie mit den Zuschauern die Sichtweise ihrer Botschaften in ihrem Film. Ziel der Arbeit mit Spielfilm ist es, die Gewalterfahrungen der jugendlichen Straftäter, die Erfahrungen von Tat und Strafe transparent zu machen, um zu hinterfragen und sie mit den anderen Gefangenen zu kommunizieren. Das Medium Spielfilm dient dabei als hoch motivierendes Medium, mit dem es möglich ist, in der Auseinandersetzung mit dem Thema und sich selbst, seine Erfahrungen und Erlebnisse in der Vergangenheit wieder lebendig werden zu lassen, sich zu spiegeln, Stellung zu beziehen und das eigene Handeln neu zu bewerten. Forschungsinteresse: Medienpädagogische Theorie- und PraxisbildungDas Forschungsinteresse zielt auf eine Curriculumrevision der sog. Medienkompetenz ab, die sich in der Praxis eher als Knöpfchen- oder Bedienkompetenz darstellt, denn als kritische Schlüsselqualifikation. Die Erforschung und Weiterentwicklung einer medienpädagogischen Theorie- und Praxisbildung zur Formulierung einer Film- und Fernsehkompetenz steht daher im Mittelpunkt, die die methodische Ausformung und Beschreibung der prozessorientierten Spielfilmarbeit zum Ziel hat. Gegenstand ist das Erproben und Evaluieren praxisrelevanter methodisch-didaktischer Verfahren in pädagogischen Prozessen, um z.B. die eigene Gegenwart und die Vergangenheit selbstreflektiv in den Mittelpunkt zu stellen, persönliche Einstellungen zu sich und seiner sozialen Umwelt zu verändern, Alltagserfahrung neu zu bewerten und in kleinen Schritten soziale und empathische Kompetenz zu erlangen. Das Interesse orientiert sich an einer differenzierten individuellen Einsicht in die eigene Weiterentwicklung seiner Persönlichkeit und Identität. Bilanz von Mai 2001 bis Februar 2005In den vergangenen vier Jahren sind mit dieser Methode in drei Gruppen mit insgesamt 28 Teilnehmern bislang 17 Kurzspielfilme entstanden sowie zwei Bücher über ihre Alltagserfahrungen, die die Gefangenen in den Zeiten zwischen den Workshops geschrieben haben und die in der Presse sowie im Fernsehen und Radio viel Interesse hervorgerufen haben. Von 28 Teilnehmern in vier Jahren, von denen die Mehrzahl an sechs bis acht Workshops teilgenommen hat, sind bis heute noch 13 Teilnehmer in Haft, 15 sind nach zwei Dritteln ihrer Haftstrafe entlassen worden. Von diesen 15 ist bis heute nur ein Täter rückfällig geworden. Mit den über 100 Geschichten, Gedichten und Interviews sind bislang zwei Bücher mit dem Titel »Wir sagen aus (Band 1/ Band 2)« veröffentlicht worden. Literatur:
Nolle, Reinhard, Dr. phil., (1946) Lehrer/Medienpädagoge Sek. II, seit 1979 Erziehungs- und Medienwissenschaft, Universität Kassel. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Methodenforschung zur Gewalt- und Suchtprävention, Interkulturelle Medienpädagogik, Prozessorientierte Spielfilmarbeit. 30 Jahre aktive Medienarbeit in der schulischen-, außerschulischen und universitären Bildung mit Antigewalt- und Suchtpräventionsprojekten, 1989-1991 deutsch-russisches studentisches Filmprojekt, 1991-1996 Interkulturelles Medien- und Forschungsprojekt mit Jugendlichen aus Deutschland und Zimbabwe, 1998-2002 Interkulturelle studentische Spielfilmprojekte für Zivilcourage und gegen Gewalt, Rassismus und Drogen. 2001-2005 Leiter des Praxis-Forschungsprojekts »Spielfilmarbeit mit jugendlichen Strafgefangenen« – JVA Wiesbaden. Kontakt: Nächster Artikel: Materialien |
Dossier #14: Medien bestimmen unseren Alltag. Aber wann haben wir die Möglichkeit, Einfluss darauf zu nehmen, worüber in den Medien berichtet wird und auf welche Art und Weise oder mit welchen Mitteln das geschieht? Die Antwort ist klar: selber machen!
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Letzte Änderung: 2005-07-29 23:08:03 | info@d-a-s-h.org Impressum |