transfehrkehr.nettv: Anna ist Russin

Das Poetische Theater Leipzig setzt sich in der Inszenierung »transfehrkehr« mit dem Schicksal osteuropäischer Prostituierter auseinander. Jetzt soll eine Internetfassung des Stücks das mit Klischees belastete Thema greifbarer machen.

Anna ist Russin. In ihrer Heimatstadt Moskau ist es sehr schwer, den Lebensunterhalt zu sichern. Es gibt wenig Möglichkeiten, selbst Akademikerinnen finden keine Arbeit. Eine Freundin ist nach Deutschland ausgewandert. Sie ist glücklich, hat sie geschrieben.

Wenig später bot ein internationales Unternehmen Anna eine Stelle als Kellnerin in Deutschland an; sie sagte zu. Wie Anna haben zehntausende Frauen die krisengeschüttelten Länder Osteuropas verlassen, um im Westen Europas Arbeit zu finden. Seriös erscheinende Arbeitsvermittler bieten an, Einreise, Arbeit und Wohnung zu organisieren. Ihre Dienste jedoch lassen sich die »Schlepper« teuer bezahlen. Unter dem Druck von Schulden und Illegalität, oftmals auch unter Drohungen und Gewalt, werden die Frauen in Deutschland zur Prostitution gezwungen.

Wo es etwas zu erzählen, aber kaum zitierfähige Daten und öffentliche Akteurinnen und Akteure gibt, verleiht die Schilderung eines exemplarischen persönlichen Schicksals dem Bericht den Glanz der Authentizität. Liest man die einschlägigen Zeitungsartikel über Illegalität, Migration und Prostitution, lernt man Irina aus Moldawien und Natascha aus der Ukraine kennen: virtuelle Geschöpfe, auf deren persönliche Identität nicht einmal ein Initial verweist. Sie sind Projektionsflächen der öffentlichen Vorstellung einer im gesellschaftlichen Halbdunkel von Kriminalität, Gewalt und Perversion angesiedelten Geschichte: das Schicksal der osteuropäischen Prostituierten; ein Thema, das schockiert und anrührt. Vergegenwärtigt man sich dazu noch die Ressentiments gegen Migrantinnen und die heuchlerische Moral der Sittenwidrigkeit, muss man davon ausgehen, dass das öffentliche Bewusstsein in dieser Frage aus einer sehr fragwürdigen Mischung besteht und Anna, wenn sie die Bühne betritt, bereits eine wohlbekannte Figur ist.



Widersprüchliche Beziehungen

Anna ist die Hauptfigur des Stückes »transfehrkehr« des Poetischen Theaters Leipzig. Die Off-Bühne hat sich mit der Aufführung zum Ziel gesetzt, den Themenkreis Migration, Illegalität und Prostitution »jenseits der Klischees vom aalglatten Zuhälter, der ausgebeuteten Russin und dem lüsternen Freier« zu beleuchten, so der Regisseur Heinrich Kus.

»transfehrkehr« besitzt keine lineare Dramaturgie. In 36 kurzen Sequenzen zeichnet das Stück den Prozess der hoffnungsvollen Einreise, dem Zwang zur Prostitution und die Befreiungsversuche der Prostituierten Anna nach; dabei entsteht jedoch keine Geschichte, vielmehr eine szenische Collage, in der eine chronologische Entwicklung zwar sichtbar, aber nicht wesentlich ist.

Zuerst füttert der Zuhälter Anna liebevoll mit frischen Salatblättern, in einer späteren Sequenz zwingt er ihr das Gemüse in den Rachen. Polizist und Zuhälter spielen eine end- und ergebnislose Schachpartie, während der sie sich einem absurden Dialog hingeben. Ein einsamer Freier spricht von Zuneigung und Geborgenheit, und die Prostituierte gerät in eine Schleife immer gleicher, zunehmend mechanischer Verrichtungen. Gesprochen wird in »transfehrkehr« wenig. Die Szenen leben nicht durch Dialoge, sondern durch einen ins Groteske überzeichneten Performance-Stil und mehr oder minder deutliche Symbolismen.

Normale Perverse

Zuhälter, Prostituierte, Polizist und Freier – die Figuren sind nicht als kohärente Charaktere, sondern als Repräsentantinnen und Repräsentanten gesellschaftlicher Gruppen konzipiert. Sinnigerweise verbleiben sie deshalb sämtlich ambivalent und gebrochen; insgesamt ein Ensemble, dessen einzelne Figuren sich mit ihren Sehnsüchten und Nöten in ein auswegloses Netz gegenseitiger Abhängigkeiten verstrickt haben, in dem es kaum Handlungsspielräume und keinen Ausweg gibt.

Das Publikum auf der Bühne Platz nehmen zu lassen, ist nun sicherlich nicht mehr der unkonventionellste Einfall, bei »transfehrkehr« aber doch mehr als zwanghafter Nonkonformismus. Die gesamte Szenerie ist in den Mikrokosmos eines Edelrestaurants verlegt, an dessen Tische die Gäste Platz nehmen, mit der Speisekarte das Libretto in der Hand halten, um am Nebentisch die Dialoge der Nachgestalten der Halbwelt zu verfolgen. Aus der Nähe kann man dann sehen, dass die Perversen und Kriminellen letztlich auch nur dem vertrauten, ganz normalen Wahnsinn unterliegen. »Wir wollten das Geschehen aus der Grauzone holen und die Figuren vergröbert, verzerrt, wie unter einem Vergrößerungsglas, zeigen«, erklärt Heinrich Kus.

Die Anordnung suggeriert natürlich auch, dass sich solche Schicksale »in der Mitte unserer Gesellschaft« zutragen, und dass »wir alle« dies regungslos zur Kenntnis nehmen. Wichtiger als der zweifelhafte Effekt betroffener Anteilnahme dürfte aber sein, dass die Verkleinerung der Bühne zum Tisch, des Theaters zur Bühnenfläche auf die theatrale Künstlichkeit der Situation selbst verweist; den Zuschauerinnen und Zuschauern wird nicht erlaubt, sich der Illusion einer authentischen Erfahrung hinzugeben.



Frauenhandel oder Arbeitsmigration?

»transfehrkehr« ist ein politisches Stück. Mit Anna wurde eine Biografie geschaffen, wie sie sich so oder so ähnlich zehntausendfach in Wirklichkeit vollziehen soll. Wenn man der für guten Journalismus bekannten Le Monde diplomatique glaubt, hat das Poetische Theater dabei eher untertrieben. In dem Artikel »Prostitution ohne Grenzen« vom 16.11.2001 fasste Francois Loncle die grenzenlose Brutalität des organisierten Frauenhandels zusammen: Er schildert, wie Frauen auf dem Transit nach Westeuropa in Lagern in Albanien mit Elektroschocks gefoltert und abgerichtet werden, um dann auf Auktionen nach Italien oder Deutschland weiterverkauft zu werden. Als Bundesreferentin für internationale Belange des Koordinationskreises gegen Frauenhandel und Gewalt an Frauen im Migrationsprozess (KOK) ist Marion Böker eine Expertin auf dem Gebiet; und sie bestätigt, dass der Artikel »seriös recherchiert« ist.

Das Konzept von »transferkehr«, auf Ambivalenzen statt Holzschnitt zu setzen, wird allerdings an einem bedeutsamen Punkt nicht durchgehalten: Die Geschichte von Anna verhandelt Migration und Prostitution als Frauenhandel, in dem die Frauen nicht als Arbeitsmigrantinnen, sondern als Rohstoff der Sexindustrie vorkommen. Christiane Howe, Mitarbeiterin der Frauenrechtsorganisation agisra, schätzt aber, dass 70 bis 80% der zirka 200.000 osteuropäischen Frauen, die in Deutschland in der Prostitution arbeiten, um den Charakter ihrer Arbeit wussten: »Die Migration ist eine subjektive Entscheidung. Viele haben bereits in ihren Heimatländern als Prostituierte gearbeitet. Es ist eher so, dass sich die Frauen Illusionen über die Rechtlosigkeit der Lage machen, in die sie sich begeben.« Durch das Fehlen einer Arbeitserlaubnis in den Status der Illegalität verwiesen, geraten die Frauen schneller in Abhängigkeitsverhältnisse. Und jede staatliche Behörde, die gegebenenfalls vor Ausbeutung und Gewalt durch Freier und Zuhälter schützen könnte, wird zur existentiellen Bedrohung. Die Soziologin legt Wert auf die Unterscheidung zwischen Menschenhandel und Arbeitsmigration, betont aber gleichzeitig, dass der Entschluss zur Arbeit in der Prostitution in keiner Weise ausschließt, Opfer von Menschenhandel zu werden.



Netztheater

Das Poetische Theater hat nun einen Kooperationspartner gefunden, mit dem ein Folgeprojekt gestartet wurde, das Gelegenheit bietet, sich der Komplexität der Thematik mit neuen Methoden weiter zu nähern. Zusammen mit dem am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig angesiedelten Projekt nettv will das Theater eine erweiterte Fassung von »transfehrkehr« auf den heimischen 17-Zoll-Bühnen des Publikums zur Aufführung bringen. Dabei geht es nettv nicht darum, eine klassische Theaterinszenierung in minderer Qualität ins Netz zu stellen; vielmehr wollen die innovativen Studentinnen und Studenten nicht weniger als »die Grenzen und Möglichkeiten des Netztheaters ausloten«. Die Speisekarte, die im Poetischen Theater schon als Libretto diente, soll als Grundstruktur einer Website Navigationsmöglichkeiten bieten, die das Stück durch Links zu Texten, Audio- und Videodateien kontextualisieren und so einen Beitrag zur Auseinandersetzung um Migration und Prostitution liefern soll.

Man darf also gespannt sein; nicht zuletzt darauf, ob das hypertextuelle Konzept auch Links vorsieht, wie sie der Koordinationskreis gegen Frauenhandel und Gewalt an Frauen im Migrationsprozess (KOK) befürwortet: der Zusammenschluss wirbt auf Websites mit illustren Domain-Namen wie lustgarten.de für sein Beratungsangebot. »Wenn Prostituierte im Internet ihre Dienste anbieten, kann ich nicht dagegen sein. Wir setzen auf Dialog und Aufklärung«, so die KOK-Bundesreferentin Marion Böker.



»Vor einigen Jahren nannte man es Fluchthilfe«

Marion Böker, Bundesreferentin für internationale Belange des Koordinationskreises gegen Frauenhandel und Gewalt an Frauen im Migrationsprozess e.V. (KOK), fordert im D-A-S-H-Interview eine Differenzierung zwischen »Schleppern« und Menschenhändlern.

Warum entschließen sich so viele osteuropäische Frauen, in Deutschland in der Prostitution zu arbeiten?

Marion Böker: Die meisten haben in ihren Herkunftsländern aufgrund der ökonomischen Situation keine Hoffnung mehr auf andere Einkommensmöglichkeiten. Die individuellen Motivationen sind vielschichtig. Manche erhoffen sich, etwas Geld zu verdienen, um ein Studium zu finanzieren, nicht wenige haben auch eine Familie zu ernähren. Oft geht der Migration nach Deutschland eine Binnenmigration in die Großstädte voraus, wo die Frauen teilweise bereits in der Prostitution arbeiten. Nicht zu unterschätzen sind Erzählungen von Bekannten und die Bilder der Medien, die Deutschland als reiches und angenehmes Land zeigen.

Welche Rolle spielen die sogenannten »Schlepper« im Zusammenhang mit der Prostitution; sind sie es, die Migrantinnen zur Prostitution zwingen, um entstandene Schulden abzuarbeiten?

Marion Böker: Da muss man unterscheiden. Das sogenannte »Schleppen«, noch vor einigen Jahren nannte man es Fluchthilfe, ist zunächst eine Assistenz für Migrantinnen, die man nicht mit Menschenhandel verwechseln darf. Die Dienstleistungen der Schlepper sind aufgrund der Klandestinität stark überteuert, aus den Fallberichterstattungen weiß man, dass die Migrationsschulden in der Regel bei etwa 6500 Euro liegen. Man kann vermuten, dass die restriktive Einwanderungspolitik die Preise noch weiter hochtreiben wird. Sobald die Frauen zur Arbeit, nicht nur zur Prostitution, gezwungen werden, oder ihnen der Lohn vorenthalten wird, liegt Menschenhandel vor. Die Händler sind die Verbrecher.

Seit dem 1. Januar 2002 ist die Prostitution in Deutschland nicht länger sittenwidrig, sondern ein Beruf wie jeder andere auch. Wie stehen Sie zu dem Gesetz?

Marion Böker: Wir begrüßen das Gesetz. Es ist ein Fortschritt, weil es der Kriminalisierung und Stigmatisierung der Frauen entgegenwirkt und ihre soziale Lage verbessern kann. Es gibt allerdings – auch im KOK, das soll nicht unterschlagen werden – eine Minderheit der Frauenrechtsorganisationen, die eine Legalisierung der Prostitution prinzipiell ablehnt. Man muss aber auch da sehen, dass die Legalisierung eine Ausstiegskomponente beinhaltet, weil es die Perspektive auf Arbeitslosengeld und Umschulung öffnet. Wir müssen jetzt abwarten, wie das Gesetz wirkt. Es ist ja ein Prozess der Beobachtung vom Gesetzgeber vorgesehen.

Der Europäische Gerichtshof befand kürzlich, Prostituierte aus osteuropäischen Staaten müsste in der Europäischen Union volles Aufenthalts- und Arbeitsrecht zugesprochen werden.

Marion Böker: Das Urteil bezieht sich nur auf Frauen, die selbstständig erwerbstätig sind. Es geht auf einen Fall aus den Niederlanden zurück, wirkt sich aber aufgrund der EU-Verträge auf alle Mitgliedsstaaten aus. Da muss noch einiges passieren, es gibt in den deutschen Arbeitsämtern bislang weder Verwaltungsvorschriften noch Arbeitsplatzverträge.

Was halten Sie von einer Greencard-Regelung für Sexarbeiterinnen?

Marion Böker: Das wäre zu begrüßen. Eine pauschale Greencard-Regelung werden wir aber kaum bekommen. Realistisch ist, dass es im Rahmen der Freizügigkeit der Erwerbstätigkeit in Einzelfällen anlaufen wird.

Der Koordinationskreis gegen Frauenhandel und Gewalt an Frauen im Migrationsprozess (KOK) ist ein Zusammenschluss von 36 Frauenrechtsorganisationen, vorwiegend Fachberatungsstellen für gehandelte Frauen.

http://lola.d-a-s-h.org/~nettv/