wider weiter im Netz: »Wir haben das nicht gewusst«

Inspiriert von einem Dokumentarfilm rekonstruieren Leipziger Schülerinnen und Schüler auf einer Website die Lebenswelten von Jugendlichen unter dem Hakenkreuz.

»Sind wir denn schlechte Leute?« fragte Thea Gersten ihre Mutter. Sie war gerade zur Tür hineingekommen, nachdem ihr kleiner Freund Walther ihr im Hausflur drohend verkündet hatte: »Mit Dir spiele ich nicht mehr, weil Du ein Judenkind bist!« 1935 brach mit diesem Satz der Nazismus in das kindliche Glück des neunjährigen Mädchens ein. Drei Jahre später gingen das Haus und das Pelzgeschäft der Gerstens in Flammen auf. Auch die Synagoge in der Gottschedstrasse brannte. »Reichskristallnacht« in Leipzig. Familie Gersten floh, über Warschau nach London. Die zwölfjährige Thea verlor ihre Jugendliebe; Philipp, der ihr auf seiner Geige Stücke vorgespielt hatte, die ihr gewidmet waren und der sie geküsst hatte. Thea lernte, dass jüdisches Leben nicht mehr aus dem Kerzenlicht und der feierlichen Atmosphäre des Sabbats, sondern aus Angst bestand; Angst vor dem brandschatzenden Mob und vor dem, was da kommen mag. Und sie lernte, dass Glück nicht bedeutet, mit einem Jungen spazieren zu gehen, sondern einfach, davongekommen zu sein.

»Wir haben das nicht gewusst!«, versichert Elisabeth Lochmann nachdrücklich. Während sie zur Schule ging und nachmittags mit ihren Freundinnen unterwegs war, wurden in ihrer Nachbarschaft Häuser geplündert und Mädchen, so jung wie sie, von der Polizei abgeholt. Etwa 14.000 Leipziger Jüdinnen und Juden fielen dem nazistischen Terror zum Opfer. »Es war eine glückliche Zeit mit Feiern, wunderbare Hochzeitsfeiern, da wurde von diesen Dingen nicht gesprochen, auch kein Lehrer verlor je ein Wort darüber«, erinnert sich die alte Frau heute. Sie erzählt vom Zusammensein im Bund Deutscher Mädels – »es waren sehr intelligente junge Frauen« – und von ihrer 17-jährigen Enkelin, die ihr heute nicht glauben will, dass sie nichts wusste. Dann schweigt Elisabeth Lochmann, und ihr Blick bittet um Verständnis.

Es sind weder Widerstandskämpferinnen noch Nazi-Funktionäre, die Kai-Thorsten und Mark-Steffen Buchele in ihrem 22-minütigen Dokumentarfilm »wider weiter« zu Wort kommen lassen. Es ist nicht die große Erzählung, nur fünf Menschen, die auf ihre Schulzeit in Leipzig zurückblicken. Die Berichte und Erinnerungen fügen sich, von den Autoren in sieben kurze Sequenzen angeordnet, zu dem groben Bild einer Normalität zusammen, wie sie sich selbstverständlich dargestellt haben mag für Jugendliche, die nur diese Zeit und diese Jugend kannten. Man versteht, dass »Rassenschande« als das zeitlose Problem schlechten Einflusses und falscher Freundschaften erschienen sein muss, man erschrickt über den Wunsch des »halbjüdischen« Mädchens, mit ihren Freundinnen zum BDM zu gehen, und versteht: Es ist durch diese Augen in dieser Zeit nicht anders als der zeitlose Wunsch, am Schulausflug teilnehmen zu dürfen. Jugend unterm Hakenkreuz: Schule, Freundschaften und Trennungen, die Deportation das Ende einer Jugendliebe.

Was macht man, wenn man keine Freunde mehr hat, weil man über Nacht zum »Judenkind« erklärt worden ist? Wie kann man sorglos sein, während Gleichaltrige von den Nazis abgeholt werden? Und vor allem: Kann es sein, dass jemand nicht wusste, was in den Konzentrationslagern passierte? »wider weiter« klärt diese Fragen nicht. Der Film mit dem kryptischen Titel verzichtet auf Kommentare, er erklärt nicht, er skizziert: So in etwa sah es aus dieser Sicht damals aus. Und danach klafft eine Lücke, die mit dem Vergleich anderer Berichte und der Einordnung der Ereignisse in historische Prozesse zu schließen wäre.

Die Autoren haben den Film konzipiert, um im Geschichtsunterricht Fragen aufzuwerfen und Diskussionen anzuregen. Mit Erfolg: Eine Gruppe Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Leipzig-Engelsdorf haben sich im Anschluss an die Filmvorführung durch ihren Geschichtslehrer entschlossen, den Versuch zu unternehmen, die Lebenswelt Leipziger Jugendlicher unter der Nazi-Diktatur zu rekonstruieren. Mit ihren Recherchen über die deutschen und Leipziger Verhältnisse zwischen 1933 und 1945 will die Gruppe den Kontext des Films erarbeiten.

Kai-Thorsten und Mark-Steffen Buchele sind von diesem Engagement begeistert, und die Autoren unterstützen das Vorhaben nicht nur ideell. Sie haben die Verbindung zum Zentrum für Medien und Kommunikation der Universität Leipzig und zum Internetprojekt D-A-S-H hergestellt, mit deren Hilfe die Schülerinnen und Schüler nun eine erweiterte Film-Fassung erstellen: »wider weiter im Netz« – eine Website, auf der die sieben Filmsequenzen per Video-Stream zu sehen sein werden, vor allem aber der jeweilige historische Kontext der einzelnen Sequenzen multimedial abrufbar sein wird. Als Kernstück der »wider weiter«-Website schließlich sind mehrere Foren geplant, in denen einzelne Aussagen in dem Film – »Wir haben das nicht gewusst!« – mit den historischen Daten in Beziehung gesetzt und von Jugendlichen diskutiert werden sollen.

Thea Hurst, geborene Gersten, wird von dem Projekt angetan sein. Nach 61 Jahren kam sie im Sommer 2000 erstmals wieder zurück nach Leipzig. In den Gesprächen, die sie in verschiedenen Schulen mit Leipziger Jugendlichen führte, betonte sie, dass es am wichtigsten sei, heute aktiv zu sein, damit sich diese Geschichte niemals wiederhole.

http://www.widerweiter.de/

Film »wider weiter«,
Kai-Thorsten und Mark-Steffen Buchele, 2001

Buch
Das Tagebuch der Thea Gersten,
Schulausgabe, Evangelische Verlagsanstalt GmbH, Leipzig, 2001.