Die Diskussion der deutschen Linken um die Haltung zum Nahostkonflikt am Beispiel der Wochenzeitung »Jungle World«

Der Nahostkonflikt und die Berichterstattung in linken Medien entfernt sich zunehmend vom eigentlichen Thema. Im Mittelpunkt stehen nicht aktuelle Ereignisse und ihre Zusammenhänge oder die Aufbereitung der Konfliktgeschichte und damit eine Verständlichmachung der politischen Geschehnisse; vielmehr wird die Positionierung (Pro-Israel oder Pro-Palästina) und die damit verbundene Argumentation zur Nagelprobe der Glaubwürdigkeit des politischen Gegenüber. War noch in den 80er Jahren die Solidarität mit der Befreiungsbewegung der Palästinenser selbstverständlich, rückte nach dem 11. September 2001 die Bedrohung des Staates Israel durch antisemitisch geprägten Terror in den Vordergrund der Debatte. Seither scheint der Kampf in den jeweiligen Redaktionen im Richtungsstreit gewissermaßen beendet: statt reflexiver und dialektischer Darstellung des Themas gibt es beinahe nur noch Publikationen, die sich entweder für die eine oder die andere Seite stark machen.

Die Wochenzeitung Jungle World, die sich an die »undogmatische Linke« wendet, veröffentlichte hingegen Ende letzten Jahres Diskussionsbeiträge zum Nahostkonflikt, die das Spektrum der Meinungsvielfalt innerhalb der Linken zum Ausdruck brachte. Dafür erntete sie reichlich Kritik aus den sich gegenüberstehenden Lagern. Zwei Monate später wird jedoch an der »Jungle World« zunehmend beanstandet, dass die ursprünglich angestrebte Meinungsvielfalt in der Redaktionslinie nicht mehr zu erkennen sei. Die Kritik wird vor allem von ehemaligen Autoren der »Jungle World« formuliert. Es bleibt abzuwarten, ob sich die Wochenzeitung einer Position anschließt oder weiterhin die »undogmatisch« linken Leserinnen und Leser mit der gewohnten Meinungsvielfalt konfrontiert.
Wir möchten mit einigen Auszügen die Diskussion – und den Schlagabtausch – innerhalb der Linken und ihrer Medien in Deutschland aufzeigen.

Jungle World 2002 #47: »Schuld und Erinnerung«

Die Shoah, der Nahostkonflikt und die Linke.
Von Klaus Holz, Elfriede Müller und Enzo Traverso*
(Der ganze Beitrag im Original)

In der bundesrepublikanischen Linken ist der Nahostkonflikt nur vordergründig von Interesse. Der Hintergrund, der diesem Thema seine Brisanz verleiht, ist die nationalsozialistische Judenvernichtung. Die Erinnerung an die Shoah, und nicht die Analyse des Nahostkonflikts, prägt die Positionen.
(…)
Der Antisemitismus in Deutschland wird zur alleinigen Beurteilungskategorie im Nahostkonflikt erhoben. Zwar ist es richtig, dass die Deutschen am meisten vom Antisemitismus verstehen, aber dass es gerade die Linken sein müssen, die keine Parteien und politischen Positionen, sondern nur noch ein homogenes Staatsgebilde zur Kenntnis nehmen, wenn es um Israel geht, bedeutet nichts anderes als die Preisgabe elementarer linker Überzeugungen. Die Verbohrtheit dieser Position geht so weit, dass die in diversen Nationalstaaten lebenden Jüdinnen und Juden gerade so, wie es Antisemiten üblicherweise tun, einfach Israel zugeordnet werden.
(…)
Teile der deutschen Linken […] kennen nur noch »die Juden« als eine homogene Gruppe, auf die man die eigenen Sehnsüchte nach Identität und Orientierung projiziert. Gegen Deutschland, gegen den Antisemitismus zu sein, bedeutet, so der Kurzschluss, die Juden nur als Opfer des Antisemitismus wahrzunehmen. Damit werden die PalästinenserInnen zum Sündenbock einer linksdeutschen Trauerarbeit, die nicht auf Reflexion, sondern auf Identifikation abzielt. Die Rechte der PalästinenserInnen werden für diese eigenwillige deutsche Vergangenheitsbewältigung geopfert.
(…)
Hinter bedingungsloser Solidarität [mit Israel] steht nichts anderes als die Flucht vor einer historischen Verantwortung und der Analyse einer komplexen politischen Situation, in der es sehr wohl Parteien, Ideen und Individuen gibt, die man verstehen kann und mit denen man sich solidarisch erklären sollte. Undifferenzierte, bedingungslose Solidarität wird notwendig falsch und ungerecht. Sie dient weit eher dem Bedürfnis einer Linken, die eine Identifikation mit den Opfern sucht, als einem linken Ein- und Widerspruch.
Eine Linke, die ihren Namen verdient, sollte sich gegen die brutale Besatzungspolitik der israelischen Regierung wenden und sich für die legitimen Rechte der PalästinenserInnen stark machen. Denn es liegt heute primär am israelischen Staat, die Gewalt im Nahen Osten zu beenden.

Jungle World 2002 #48: »Projektion und Wahn«

Das Dossier »Schuld und Erinnerung« demonstriert die Unmöglichkeit, binären Denkmustern zu entkommen.
Von Udo Wolter
(Der ganze Beitrag im Original)

Was die AutorInnen durch ihren ausschließlichen Blick auf die PalästinenserInnen als Opfer ausblenden, lässt sich auch an einem Vergleich mit dem türkisch-kurdischen Konflikt verdeutlichen.
Es ist noch nicht allzu lange her, dass die kurdische Nationalbewegung um die PKK wegen einiger völkisch-nationalistischer Aspekte ihrer Ideologie und damit zusammenhängenden antisemitischen Tendenzen von einem Teil der radikalen Linken in Deutschland kritisiert wurde. Und das zu einem Zeitpunkt, als der türkische Staat einen brutalen Krieg in Kurdistan führte und die Anhänger der PKK in Deutschland erheblichen Repressionen ausgesetzt waren.
Eine nicht unerhebliche Rolle spielte in dieser Kritik die Tatsache, dass die PKK dazu übergegangen war, Selbstmordaktionen zu propagieren. Meist waren dies Selbstverbrennungen, einige Selbstmordanschläge richteten sich ausschließlich gegen die türkischen Sicherheitskräfte, wie zum Beispiel im Fall einer jungen Kurdin, die sich in eine Militärparade stürzte und in die Luft sprengte.
Selbst zu einem Zeitpunkt, als die türkische Armee weit brutaler vorging als die israelische, als es täglich zu Opfern unter der Zivilbevölkerung kam, Hunderte von Dörfern zerstört und ganze Landstriche systematisch verwüstet wurden, Todesschwadronen kurdische Menschenrechtsaktivisten, Intellektuelle und Politiker ermordeten, kam kein Anhänger der PKK auf die Idee, sich in einem Istanbuler Café in die Luft zu sprengen, um dort möglichst viele Zivilisten zu töten. Das aber ist bei palästinensischen Selbstmordbombern die Regel.
Selbst die Tamil Tigers in Sri Lanka, die zumindest in der deutschen Linken in einem weitaus höheren Maße diskreditiert sind als die PKK, haben ihre zahlreichen Selbstmordanschläge vor allem gegen die staatlichen Sicherheitskräfte und nicht gegen die singhalesische Zivilbevölkerung verübt.
Dennoch stand für nationalismuskritische Linke auch im Fall der PKK außer Frage, dass mit der »patriotischen« Aufopferung für das nationale Kollektiv der emanzipatorische Gehalt einer Befreiungsbewegung hinfällig geworden war und dass dies keinesfalls mit dem Opferstatus der Unterdrückten »erklärt« werden konnte.
Dass die Leiden der kurdischen Bevölkerung durch solche Kritik nicht ignoriert wurden, war zumindest einer kritischen Linken jenseits der antiimperialistischen Freunde unterdrückter Völker durchaus vermittelbar. Um wie viel mehr muss das erst gelten, wenn sich der völkisch bzw. religiös inspirierte Todeskult als antisemitisch aufgeladene Mordtat gegen ein halluziniertes jüdisches »Feindkollektiv« richtet? Wenn also nicht einmal vor bekannten Treffpunkten linker und friedensbewegter Israelis in Tel Aviv oder, wie in der vergangenen Woche, einem linken Kibbuz, dessen BewohnerInnen für den Rückzug Israels auf die Grenzen von 1967 und einen unabhängigen Palästinenserstaat eintreten, zurückgeschreckt wird?
Der israelisch-palästinensische Konflikt darf zwar sicher nicht auf den Antisemitismus und die Shoah reduziert werden, er kann aber auch nicht einmal ansatzweise ohne beide gedacht werden. So findet die Vergleichbarkeit der beiden Konflikte natürlich ihre Grenze im Antisemitismus und der Shoah als einer Ursache der Gründung Israels im Gegensatz zur Gründungsgeschichte der türkischen Republik.
Bezeichnend ist jedoch die unterschiedliche öffentliche Reaktion auf das staatliche Vorgehen in den beiden Fällen. Die Türkei ist, wie viele ähnlich autoritär strukturierte Staaten, trotz der jahrzehntelangen blutigen Unterdrückung der Kurden und permanenter Menschenrechtsverletzungen noch nie von internationalen Institutionen und der »zivilgesellschaftlichen« Öffentlichkeit derart verurteilt und als Staat delegitimiert worden wie Israel. Niemals hat sich ein dem Antizionismus vergleichbarer »Antikemalismus« als eigenständiges Ideologem herausgebildet, der die Türkei mit derselben schlafwandlerischen Sicherheit ins Zentrum aller Weltkonflikte stellen würde, wie es mit Israel allein in der letzten Zeit, von Durban über den 11. September bis zu den GlobalisierungskritikerInnen, geschehen ist.

*Jungle World 2002 #48: »Ein Opfer zu viel«

Die Ambivalenzen des Nahostkonflikts erlauben keine einfachen Lösungen. Noch eine Kritik am Dossier »Schuld und Erinnerung«.
Von Ole Frahm und Freunden
(Der ganze Beitrag im Original)

Unsere Kritik wird in Deutschland formuliert. Jede Analyse des Nahostkonflikts ist daher von Diskursen geprägt, in denen die Schuldabwehr, der Antisemitismus, die wieder vereinigte Nation und ihre weltpolitischen Ansprüche als europäische Führungsmacht eine Positionierung erfordern. Es kann auf keinen Fall um die alte linke Vermessenheit gehen, den Konflikt objektiv analysieren zu wollen. Jede hier formulierte Analyse hat für die Konfrontation im Nahen Osten keine Relevanz, sondern nur dafür, wie hier, jetzt und zukünftig diskutiert wird.
Die AutorInnen setzen auf eine Rhetorik der Fakten, doch bleiben zu viele Fragen offen, und das, was manche Antideutsche analysieren, wird zu wenig gewürdigt.
Unsere Kritik ist nicht unproblematisch. Die Reflexion des eigenen Sprechorts, der subjektiven Position, darf nicht dazu führen, sich in die Rolle der besseren Deutschen zu schreiben, die glauben, den Antisemitismus überwunden und das Verhältnis zur Shoah geklärt zu haben. Vielmehr versuchen wir, eine kosmopolitische Position zu formulieren, die getragen wird von dem Wunsch, die herrschenden Verhältnisse zu zersetzen.
(…)
Die im Essay zu findende Abwehr gegen die Analyse des palästinensischen Antisemitismus ist im deutschen Mainstream ausgesprochen beliebt. Statt den Antisemitismus zu erkennen und zu analysieren und festzustellen, dass er nicht die einzige Ursache des Konflikts ist, wohl aber eine wesentliche Bedingung seiner Fortsetzung, wird ohne jeden Beleg unterstellt, die Antideutschen würden sich einer solchen Monokausalität bedienen.
Wir wollen diese Kritik an einem Beispiel verdeutlichen. Die AutorInnen beschreiben die Selbstmordattentate als barbarisch, aber auch als »Akte der Verzweiflung«, die von der Hamas instrumentalisiert würden. Diese Aussage reicht nicht aus. Wer behauptet, dass die Verzweiflung das zentrale Motiv sei, legt nahe, dass es keine positive Entscheidung für die Selbstmordattentate gibt. Sie stellen die scheinbar letzte politische Option der PalästinenserInnen dar.
Selbstmordattentate sind aber nicht nur »barbarisch«, sie sind auch antisemitisch und gerade dadurch positiv motiviert. Nicht aus Verzweiflung werden möglichst viele Zivilisten umgebracht, sondern aus Judenhass. Es ist eine positive Entscheidung, die von zahlreichen Performativen in der palästinensischen Gesellschaft getragen wird.
Das festzustellen, bedeutet nicht, die militärische Okkupation des Gaza-Streifens und der Westbank zu unterschlagen. Die palästinensische Friedensaktivistin Sumaya Farhat-Naser formulierte im Oktober auf ihrer Lesereise durch Deutschland bei einer Veranstaltung des Evangelischen Studienwerkes zuerst gemäß der gängigen palästinensischen Ideologie, es gebe ein Opfer des Konflikts, die PalästinenserInnen. Sie korrigierte sich aber sofort: »Es gibt zwei Opfer.« Es ließe sich hinzufügen: Es gibt, bei aller Ungleichheit, auch zwei Täter. Für deutsche Linke sind das ein Opfer und ein Täter zu viel.
(…)
Es gibt für diesen Konflikt keine einfache »Lösung«. Jede Hoffnung darauf versucht, die Geschichte zu verdrängen, anstatt sich mit ihr auseinanderzusetzen. Die Ambivalenz der Situation, in der es mehr als einen Täter und mehr als ein Opfer gibt, darf nicht reduziert werden. Denn diese Ambivalenz erzeugt nicht zuletzt die Sehnsucht nach klaren Lösungen. Stattdessen müssen Praktiken entwickelt werden, die die historischen Ambivalenzen zur Voraussetzung der Politik machen.

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