Antisemitische Stereotypen in der Nahost-Berichterstattung

Ulrich W. Sahm, Journalist, Jerusalem

Unausgewogene Berichterstattung

Eine Studie der Bundeszentrale für politische Bildung bestätigte kürzlich deutschen Fernsehreportern eine »ausgewogene« Nahost-Berichterstattung.

Da wurde gezählt, wie viele Sekunden lang Ariel Scharon oder Jassir Arafat über die Mattscheibe flimmerten. Aber entscheidend dürften weniger die Sekunden sein, als die gezeigten Inhalte. Um beim Beispiel Scharon/Arafat zu bleiben, wäre es sinnvoll zu prüfen, wie beide Politiker gezeigt werden. Die Nachrichtenagenturen haben es sich über Monate hinweg zur Angewohnheit gemacht, dem Namen des israelischen Premierministers das Adjektiv »hardliner« hinzuzufügen. Ungeachtet der Frage, ob Scharon ein »hardliner« ist oder nicht, erübrigt eine solche Vorverurteilung die sachliche Auseinandersetzung mit seiner Politik. Gleichzeitig entsteht der Eindruck, als sei Scharons Kontrahent Arafat kein »hardliner«.

Bei einer nach Sekunden gemessenen »ausgewogenen« Berichterstattung müsste auch geprüft werden, was die Reporter weglassen. In einer Konfliktsituation äußern Politiker oft Kriegsdrohungen neben Friedenshoffnungen. Je nach Parteilichkeit kann der Journalist bei einem Politiker nur Kriegsdrohungen zitieren und bei dessen Kontrahent nur Friedenshoffnungen. Bei identischer Sendezeit entsteht ein verzerrtes Bild. Kaum ein Journalist dürfte im Januar Ariel Scharons Spruch von einem »friedenssüchtigen Israel« bei einer Pressekonferenz aufgegriffen haben. Wenn aber Arafat einen Terroranschlag verurteilt, den er selber finanziert hat, wie sich im Nachhinein herausstellt, dann erhalten Arafats Worte eine höhere Priorität als die Zahl der Toten.

Kinder als Instrument der Propaganda

Ein Beispiel »einseitiger« Berichterstattung lieferte die BBC. Das Thema war das Leiden der Kinder als »unschuldige« Opfer. Gezeigt wurde ein palästinensisches Mädchen im Krankenbett. Dessen Eltern redeten mit Tränen in den Augen. Um der »ausgewogenen« Berichterstattung Genüge zu tun, sah man wenige Sekunden lang einen Krankenwagen um die Ecke fahren. Darin fuhr ein verletztes israelisches Kind ins Krankenhaus. Weder sah man das Kind noch seine Eltern. So wurde Mitgefühl für die palästinensische Seite erzeugt, obgleich, in Sekunden gemessen, der »Ausgewogenheit« Genüge getan wurde.

Reportagen über das »Leiden der Kinder« wollen die »unschuldigen Opfer« hervorheben. Kinder könnten nicht für Terroranschläge oder für »Staatsterror« verantwortlich gemacht werden. Wenn aber, wie im Falle jenes BBC Beitrags, nur das Kind einer Seite gezeigt wird, ist es nicht mehr »unschuldiges Opfer«. Es wird für die Propaganda instrumentalisiert. Das leidende Kind wird zur Waffe mit doppelter Funktion: die Opferrolle einer Konfliktpartei hervorheben und Feindseligkeit gegenüber der Anderen zu erzeugen. So werden Kinder benutzt, um noch mehr leidende Kinder zu erzeugen. Doch das Leiden der Kinder schafft noch längst nicht die Probleme aus der Welt.

Ausgeblendete Wirklichkeit

Problematisch ist bei der Fernsehberichterstattung die Tatsache, dass man nur das zeigen kann, was zu sehen ist. Das führt zu einer Verflachung der Wirklichkeit. Zerstörte Häuser, Bulldozer und Panzer liefern immer »starke Bilder«. Die von Selbstmordattentätern zerbombten Busse oder Cafés liefern ebenso »starke Bilder«. Aber die Anschläge sind keine täglichen Ereignisse. So entsteht der Eindruck, als würden die Israelis täglich gegen Palästinenser vorgehen, während palästinensische Taten seltener vorkommen. Unsichtbar bleiben die palästinensischen Vorbereitungen für Terroranschläge, das Bombenbauen und das Training. Von den Israelis mit »exzessiver Gewalt« verhinderte Anschläge sind jedoch ein »non-event« (Nicht-Ereignis), das sich im Fernsehen nicht darstellen lässt. Gezeigt wird israelische Gewalt, während die potentielle palästinensische Gewalt bestenfalls als unbelegte israelische »Behauptung« im Raum steht.

Totenkult und Politik

Die Mentalität der Konfliktparteien führt zu unterschiedlich »starken Bildern« trotz identischer Wirklichkeit. So bemühen sich die Israelis, ihre eigenen Opfer möglichst nicht abzubilden. Kameras werden nicht in Krankenhäuser zugelassen, wenn blutüberströmte Verletzte behandelt werden. Bei Anschlägen bemühen sich die Kameraleute, allzu »grafische« Aufnahmen zu vermeiden. Bilder der Toten wurden nur in Ausnahmefällen freigegeben, erstmals nach dem Anschlag im Café Moment in Jerusalem. Existierende Bilder zerfetzter Jugendlicher etwa nach dem Anschlag auf das Dolfinarium in Tel Aviv wurden nicht veröffentlicht. Die Israelis handeln da ähnlich wie die Amerikaner. Niemand hat im Fernsehen einen einzigen Toten oder Verletzten der Anschläge des 11. September gesehen.

Die Palästinenser kennen keine Pietät gegenüber ihren Toten. TV-Kameras werden in Operationssäle der Krankenhäuser eingelassen, wo die Ärzte zur Seite rücken, damit der eintretende Tod gefilmt werden kann. Angehörige werden nicht gefragt, ob »ihr« Toter für politische Zwecke instrumentalisiert werden dürfe. Kameras filmen bei den Kühlschränken der Totenkammern. Im palästinensischen Fernsehen werden Nahaufnahme tödlicher Wunden in ständiger Wiederholung gesendet. Für die Palästinenser sind diese grausigen Bilder eine Stärkung des Kampfgeistes. Für Israelis ist das Hetze.

Auch Begräbnisse wirken unterschiedlich. Bei den Israelis sind sie eher geordnet und zurückhaltend. Oft bitten Familien darum, bei Beerdigungen nicht zu filmen. Bei Palästinensern hingegen sind es »temperamentvolle« politische Demonstrationen.

Problematisch ist zum Beispiel der »Schmerz einer Mutter« nach einem Selbstmordanschlag mit zahlreichen Toten, wenn allein die Mutter des palästinensischen Massenmörders gezeigt wird, nicht aber die ebenso trauenden israelischen Mütter. Der ungeübte Fernsehzuschauer wird bei den Aufnahmen der Mutter des Selbstmordattentäters kaum bemerken, dass ihre »Trauer« möglicherweise inszeniert ist. Nach einem Anschlag in Jerusalem im November 2002 standen neben einer solchen »trauernden« palästinensischen Mutter lachende Kinder. Solche Szenen werden von palästinensischen Kameraleuten gedreht. Die machen keinen Hehl aus ihrer »Verpflichtung« zum palästinensischen Kampf. Solange weder israelische noch ausländische Korrespondenten bei den Filmaufnahmen der »trauenden Mutter« anwesend sein können, lässt sich die »Echtheit« der Szenen nicht nachweisen. Die lachenden Kinder neben der Mutter sind ein Hinweis dafür, das an der Szene etwas nicht stimmte. Unglaubwürdig wird die »Trauer« dieser Mutter zudem, wenn man später in Nachrichtenagenturen lesen kann, wie sie die »Heldentat« ihres Sohnes lobt und sich wünscht, dass auch ihre anderen Kinder zum »Schahid« (Märtyrer) werden mögen.

»Ich habe den Auftrag, ein emotionales Stück zu machen« sagte die Redakteurin eines deutschen Fernsehsenders. Deshalb waren für sie nur die Bilder der gestellten »Trauer« brauchbar. Der Wunsch, andere Kinder in den Tod zu schicken, passte »nicht ins Konzept«.

Umgekehrt findet man auch bei israelischen Reportern eine einseitige Sicht, wenn sie von »unseren Soldaten« reden und undifferenziert das Wort »Terroristen« benutzen. Doch die israelische Presse ist vielfältig und vor allem auch kritisch gegenüber der eigenen Regierung und dem Vorgehen der Soldaten in den Palästinensergebieten. Einige palästinensische »Informationsdienste« verbreiten mit Vorliebe kritische Artikel von Reportern wie Amira Hass oder Gideon Levy und natürlich Uri Avneri, weil »israelische Verbrechen« umso glaubwürdiger klingen, wenn sie von Israelis dargestellt werden. Hanoch Marmari, Chefredakteur des Haaretz, sagte zu diesem Phänomen: »Manchmal werden die Intentionen unserer Autoren und Redakteure absichtlich verdreht… Der gute Ruf der Zeitung wird manchmal ausgenutzt, um anti-israelische Propaganda zu legitimieren, was uns sehr besorgt.«

Die Vergeltung geht ins Auge

Es mangelt nicht an Beispielen, um darzustellen, wie die wichtigsten Informationsquellen der deutschen Medien die Wirklichkeit verdrehen, subtil kommentieren und Meinung machen, anstatt trocken und unparteiisch erst einmal nur die Fakten zu vermelden. Nachfolgend ein rein zufällig herausgegriffenes Ereignis, analysiert allein anhand der Agenturtexte und ohne zu prüfen, was tatsächlich vor Ort geschehen ist und ob die Zitate korrekt aus dem Hebräischen übersetzt worden sind.

Wenige Stunden nach dem doppelten Terroranschlag in Mombasa, Kenia, am 28. November 2002 sagte Premierminister Scharon: »Unser langer Arm wird die Terroristen und ihre Drahtzieher fangen.« Diese Aussage hätte auch jeder deutsche Polizeipräsident nach einem schweren Verbrechen äußern können. Die englischsprachigen Agenturen Reuters und ap übernahmen Scharons Satz kommentarlos. Doch in Deutschland fügte die Reuters-Redaktion der Übersetzung einen im Original nicht vorhandenen Zwischentitel ein: »Scharon kündigt Vergeltung an«

Im Reuters Originaltext vom 28.11. heißt es weiter: »Prime Minister Ariel Sharon vowed Israel would hunt down those responsible … Our long arm will catch the attackers and those who dispatch them.«

Aus dem erwähnten »Schwur« Scharons, die Verantwortlichen »jagen« zu wollen, machte deutsche Redaktion: »Israel wird jene zur Strecke bringen, die das Blut unserer Bürger vergossen haben.« Der englische Jagdbegriff »hunt down« verwandelte der Übersetzer in »zur Strecke bringen«. Das bedeutet Töten und im Falle von Menschen auch Morden, nicht nur »jagen« oder »fangen«.

Auch einen Aufruf an die Welt zu einem »kompromisslosen Feldzug gegen den Terror« hat Scharon so nicht gefordert. Vielmehr forderte er die Intensivierung einer schon laufenden Kampagne (der Amerikaner), wobei er den Anschlag in Mombasa in den weltweiten Terror der El Qaeda einbettete und bewusst von dem »Lokalkonflikt« zwischen Israelis und palästinensischen »Freiheitskämpfern« distanzierte. Reuters schrieb ursprünglich auf Englisch: »The world campaign against terror must become real, tangible and uncompromising, aimed against every terror organization and those who give them shelter everywhere and at all times.«

Reuters in Deutschland verwandelte so Scharon in einen vergeltungssüchtigen Jäger und Kriegstreiber gegen den »Terror«, obgleich er Stellung zu einem Terrorkrieg bezog, den Andere längst führen. Dem folgte noch als eigenwilliger Kommentar die »Erinnerung« an den Befehl Golda Meirs, alle Beteiligten des Terroranschlags in München 1972 zu töten. So impliziert Reuters, dass Scharon den Befehl erteilt habe, die »Terroristen und deren Drahtzieher« von Kenia zu töten. Das hat freilich Scharon weder gesagt, noch wurde ein entsprechender Beschluss bekannt.

Dpa und afp-Deutschland vermeldeten an jenem Tag ebenfalls die nicht ausgesprochene »Vergeltung«. Dpa formulierte: »Nach den Anschlägen auf israelische Touristen in Kenia hat Israel gestern Vergeltung angekündigt« und bei afp hieß es: »Der israelische Ministerpräsident Ariel Scharon hat nach seiner Wiederwahl zum Parteichef des rechtsgerichteten Likud-Blocks Vergeltung für die Anschläge in Kenia und Israel angekündigt.« Eine Zeitung in Deutschland verschärfte die von drei Agenturen frei erfundene »Vergeltung« und titelte: »Israel droht nach Anschlägen mit Rache.«

Diese Analyse der Wiedergabe wörtlicher Zitate zeigt, dass den Redaktionen in Deutschland keine falsche oder tendenziöse Berichterstattung vorgeworfen werden kann. Das Problem liegt eher bei den Nachrichtenagenturen.

Jahrelange Erfahrung lehrt, dass in den deutschen Medien fast jede israelische Militäroperation als »Vergeltung« bezeichnet wird. Das fällt besonders dann auf, wenn der israelische Militärsprecher höchstoffiziell von einem »Präventivschlag« spricht, also einem Angriff ohne vorherige Tat der Gegner. Eine deutsche Agentur hat einmal die Ankündigung des Militärsprechers über einen »Präventivangriff« als »Vergeltungsschlag« übersetzt. Die Nachfrage bei einem Mitarbeiter jener Agentur ergab, dass es einen »redaktionellen Beschluss« gebe, israelische Angriffe grundsätzlich als »Vergeltung« zu bezeichnen. Zur Begründung meinte er, dass durch die Verwendung dieses Begriffes klar sei, dass Israel der Angreifer sei.

Die automatische und offenbar allein in Deutschland übliche Verwendung des Wortes »Vergeltung« im Zusammenhang mit Israel ist nachweislich subtiler Antisemitismus.

  • Es handelt sich um ein »Prinzip«, also eine automatische Handlung. »Die Reaktion Israels erfolgte mit der Präzision eines Uhrwerks«, hieß es in einem Korrespondentenbericht.
  • Keine Agentur würde jemals berichten, dass Israel auf einen erwarteten »Vergeltungsschlag« verzichtet hätte. Denn man kann nicht berichten, was nicht stattgefunden hat.
  • Vergeltung wird oft als »biblisches Prinzip« dargestellt, was einer Entmündigung der Regierung Israels gleichkommt. Es entsteht der Eindruck, als sei »Vergeltung« eine Frage von Mentalität und Religion, aber kein politischer Beschluss mit unterschiedlichen Absichten: Abschreckung, Verhinderung weiterer Angriffe des Feindes oder auch innenpolitisches »Dampf ablassen«. Besonders krass ist die Verwendung des Wortes Vergeltung, wenn etwas in Hebron im Westjordanland passiert, aber ein fast zeitgleicher Angriff im 200 Kilometer entfernten Gazastreifen nun als »Vergeltung« bezeichnet wird. Die Angriffsziele im Gazastreifen sprechen eher dafür, dass es sich um Routineangriffe auf Gießereien, Metallwerkstätten und andere Einrichtungen zur Herstellung von Kassamraketen handelte, die auch einen Tag vor dem Anschlag in Hebron und einen Tag danach angegriffen wurden. Doch an jenem Abend, wo etwas in Hebron passiert ist, wird die Routine zum »Vergeltungsschlag« und entsprechend wird auch das Ereignis in Hebron in den Schatten des israelischen »Rückschlags« gestellt.

Nicht selten wird in den deutschen Medien anstelle von »Vergeltung« die biblische Formel »Auge um Auge, Zahn um Zahn« verwendet. So verstärkt sich der Eindruck, als führten die jüdischen Politiker in Jerusalem biblische Gebote aus.

»Vergeltung« im Zusammenhang mit Israel entspricht einer alten Tradition des kirchlichen Antijudaismus, den Martin Luther maßgeblich beeinflusste. Er hat in seiner Spätschrift »Wider die Jüden« entscheidend dazu beigetragen, die Juden als rachsüchtig darzustellen. Deren »Gott der Rache« wurde einem christlichen »Gott der Nächstenliebe« gegenübergestellt. Auch diese weit verbreitete These ist eine bewusste Fälschung. Denn an den Stellen im Neuen Testament, wo Jesus sagt: »Liebe Deinen Nächsten wie Dich selber«, fügte Jesus stets an: »Wie geschrieben steht.« Nächstenliebe ist deshalb keine Erfindung Jesu, sondern ein Zitat aus jüdischen Schriften.

Es ist kaum anzunehmen, dass sich die Journalisten dieser Zusammenhänge bewusst sind, wenn sie »Vergeltung« oder »Auge um Auge« schreiben. Man kann ihnen nicht einmal aktiven Antisemitismus vorwerfen. Doch irgendwie haben sie nach der Nazizeit diese Begriffe erlernt und tragen sie weiter. Intuitiv wissen sie auch, dass »Auge um Auge« etwas mit Juden zu tun hat, denn niemand käme auf die Idee, Osama bin Laden oder dem Chef der Hamas-Bewegung nachzusagen, gemäß einem »biblischen Prinzip« zu handeln. Schließlich sind das Moslems, denen der Koran und nicht die Bibel heilig ist. Zu den jüdischen Israelis passt aber der Begriff wunderbar.

(Weitere Artikel von Ulrich Sahm u.a. über seine Arbeit in Israel finden sich auf seiner Homepage.)

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