Offizielles Erinnern in der Bundesrepublik Deutschland

von Katharina Hamann

In der Bundesrepublik hat das Erinnern an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust unterschiedliche Stationen durchlaufen. Gerade die öffentliche Auseinandersetzung kann zeigen, wie sich das Geschichtsbild verändert hat und den jeweiligen politischen Absichten angepasst wurde. Die einzelnen Daten und Ereignisse zeigen dabei jedoch nur einen Teil der Erinnerungsdebatte in Deutschland. Die verschiedenen Bezüge auf den Nationalsozialismus (NS), z.B. Leugnung, Schuldabwehr oder Anerkennung der Schuld, bestehen und bestanden gleichzeitig nebeneinander, so dass nicht von einer linearen Entwicklung gesprochen werden kann. Aber die Etappen zeigen ein Meinungsbild, das in der Öffentlichkeit dargestellt wurde.

Ab 1945 wurde zunächst versucht zu beweisen, dass die Deutschen von ’44 nicht dieselben waren wie die von ’45. Es gab einen offiziellen Bruch mit dem Nationalsozialismus, der eher aus pragmatischen Gründen vollzogen wurde, da Deutschland den Krieg verloren hatte. Innergesellschaftlich wurden Kontinuitäten akzeptiert, nur wenige Menschen durften nicht weiter in ihrem Beruf arbeiten, und Entlassungen von nationalsozialistischen Täterinnen und Tätern wurden von der Bevölkerung nicht gefordert. Allgemein kann für die Nachkriegszeit bis zum Ende der 60er Jahre gesagt werden, dass das Verdrängen der Taten im Vordergrund stand.

Die so genannten 68er(1) erhoben Anklage gegen dieses Verdrängen. Besonders auf die Verstrickungen in den eigenen Familien wurde das Augenmerk gerichtet und der Vorwurf des Schweigens an die Väter geäußert. Sie forderten eine individuelle Auseinandersetzung mit den eigenen Taten, klagten dabei aber nicht die Gesellschaft als Ganze an.

Neben der Auseinandersetzung mit eigener (Familien-) Geschichte setzte ihre Kritik vorrangig an den Kontinuitäten bei den Eliten an, wie bei Richtern und Professoren, denen eine Hauptschuld am Nationalsozialismus gegeben wurde. Im Zuge der Politisierung des Alltags und den Forderungen nach Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte gründeten sich gegen Ende der 70er Jahre in vielen Orten Geschichtswerkstätten und Vereine, die sich mit der Lokalgeschichte im NS beschäftigten. Dabei ging es in vielen Projekten um die Orte, an denen beispielsweise KZ-Außenlager oder Unterkünfte von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter befanden. Die Arbeit dieser Vereine wurde zumeist von öffentlichen Geldern unterstützt und als Teil der demokratischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus angesehen.

Im öffentlichen Diskurs war man jahrelang bemüht zu betonen, dass die Wandlung vom Nazi zum westlichen Demokraten gelungen sei. Ab den 80er Jahren wurde es dann notwendig auch ein erstarktes Deutschland vermitteln zu können. Bei offiziellen Anlässen wurden die Shoah und der Zweite Weltkrieg zum Thema. Wichtige Einschnitte sind beispielsweise der 8. Mai 1985, die Jenninger Rede 1988 und vor allem der so genannte Historikerstreit 1986.

Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker sprach anlässlich des 40. Jahrestages des 8. Mai, dem Tag der Befreiung, 1985 im Bundestag. In der Rede nannte er den Tag auch ’Tag der Erinnerung’: »8. Mai ist für uns vor allem ein Tag der Erinnerung an das, was Menschen erleiden mussten.« In der sehr emotionalen Rede überwog die Auseinandersetzung mit den individuellen Entscheidungen und Ängsten der Deutschen während des Nationalsozialismus. Weizsäcker betonte die Schrecken und Leiden aller und egalisierte damit die Unterschiede zwischen Opfern und Täterinnen bzw. Tätern. Andererseits sprach er ganz klar vom »Tag der Befreiung« und auch von der individuellen Schuld der Deutschen und hinterfragte die Aussage, von nichts gewusst zu haben. »Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, dass Deportationszüge rollten. (…) Es gab viele Formen, das Gewissen ablenken zu lassen, nicht zuständig zu sein, wegzuschauen, zu schweigen. Als dann am Ende des Krieges die ganze unsagbare Wahrheit des Holocaust herauskam, beriefen sich allzu viele von uns darauf, nichts gewusst oder auch nur geahnt zu haben.« Für diese Einschätzung und die Anerkennung individueller Schuld wurde der Bundespräsident damals besonders von konservativer Seite öffentlich kritisiert. Nicht verwunderlich, Weizsäckers Rede stand den Trends der Auseinandersetzung eigentlich entgegen. Denn die Erinnerungsdiskurse entwickelten sich Mitte der 80er eher in Richtung Betonung der Leidenserfahrungen und weg von der Auseinandersetzung mit Schuld. Im Vorfeld der Feierlichkeiten zu diesem Jahrestag legte beispielsweise Helmut Kohl gemeinsam mit dem damaligen Präsidenten der USA Ronald Reagan Kränze an der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen und auf dem Soldatenfriedhof Bitburg nieder. Dies stieß in der Öffentlichkeit auf Kritik, weil in Bitburg auch Angehörige der Waffen-SS beerdigt sind.

Es ist nicht verwunderlich, dass gerade in dieser Zeit der so genannte Historikerstreit entbrannte, der weit über die Geschichtswissenschaft hinaus beachtet wurde. Die öffentliche Debatte wurde eröffnet von Ernst Nolte am 6. Juni 1986 in der FAZ mit der Klage über die »Vergangenheit, die nicht vergehen will. (…) Die wie ein Richtschwert über der Gegenwart aufgehängt ist.« Er sprach sich für eine Normalisierung der Betrachtung des NS aus. Seine zentralen Bestrebungen waren die Relativierung der Shoah durch ihre Einordnung in die Geschichte des Stalinismus (»asiatische Tat«) und die Popularisierung eines Schlussstrichs. Er war der erste, der diese Position aus der Mitte der Gesellschaft lautstark äußerte. Die Gegenposition im Historikerstreit, vertreten vor allem von Jürgen Habermas, betonte die Einzigartigkeit des NS und versuchte zwischen Vergleichen und Gleichsetzen zu differenzieren. Für sie bedeutete Historisierung nicht »Tabubruch« und »Sprengen der Fesseln der Geschichtsschreibung«, sondern wissenschaftliche Durcharbeitung und seriöse Aufklärung. Der Nationalsozialismus solle als historisch abgeschlossen mit den geschichtswissenschaftlichen Analysemethoden aufgearbeitet werden.

Dossier #11: Erinnerungskultur und Gedächtnispolitik

  1. Erinnerungskultur und Gedächtnispolitik
  2. Offizielles Erinnern in der BRD
    (Katharina Hamann)
  3. Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur in der DDR
    (Sylvia Gössel)
  4. Geglättete Erinnerung
    (Sebastian Kirschner)
  5. Wie erinnern?
    (Salomon Korn)
  6. Waagschalen-Mentalität
    (Martin Jander)
  7. Kein Mitleid mit den Deutschen
    (Marek Edelmann)
  8. Die Rolle der Medien im Erinnerungsdiskurs
    (Mathias Berek)
  9. Das Projekt Shoa.de
    (Stefan Mannes)
  10. BildungsBausteine gegen Antisemitismus
  11. Stolpersteine
  12. Literatur und Materialien

Zusammengefasst standen sich diese beiden Positionen gegenüber: Einerseits stand die Richtung von Nolte für das Zurückweisen der Schuld, Relativierung der Schuld durch Verweis auf Verbrechen anderer, Angriff auf die etablierte Gedenkpolitik, und, dass man sich insgesamt nicht für die eigene Nationalgeschichte schämen müsse.
Andererseits wollte die Seite von Habermas das deutsche Erbe antreten durch kritische Aneignung der Geschichte, d.h. Betonen der Zäsur von 1945, die das Schlechte vom jetzigen Guten trenne. Durchgesetzt haben sich in der Geschichtswissenschaft und in der offiziellen Erinnerungspolitik Teile beider Positionen. Der Verweis auf Verbrechen anderer Nationen, insbesondere der Vergleich des Nationalsozialismus mit dem Stalinismus, hat in viele Bereiche der Auseinandersetzung mit Gedenken Einzug gefunden. Andererseits konnte sich der so genannte Schlussstrich unter die Vergangenheit nicht durchsetzen.(2)

(1) Als 68er bezeichnet man die Generation, die sich ab Mitte der 60er Jahre rund um die Studierendenproteste politisiert hat.

Kennzeichnend für das Gros der Beschäftigungen mit dem deutschen Faschismus ist die Einnahme der Opferperspektive; d.h. also, zentral wird sich mit den Opfern, insbesondere mit den Jüdinnen und Juden, auseinandergesetzt. Dies ist einerseits selbstverständlich notwendig, andererseits entlastet es aber auch von der Schuldfrage. Die Schuld, die die Deutschen allgemein und individuell an den Verbrechen während des Nationalsozialismus tragen, nimmt meist einen zu geringen Raum ein. Von dieser wird beispielsweise abgelenkt mit Formulierungen wie ’Hitler kam über Deutschland’ oder ’die Taten einiger weniger’ usw. Damit, wie auf allen Ebenen und in allen Bereichen das nationalsozialistische System mit getragen und weiter entwickelt wurde, befassen sich die öffentlichen Reden oder Debattenbeiträge nur selten. Genau dies versuchte Philipp Jenninger 1988 bei seiner Rede anlässlich des 50. Jahrestages der Novemberpogrome im Bundestag. Er erinnerte nicht bzw. nicht vordergründig an die Jüdinnen und Juden, die von der Gewalt der Pogrome (beschönigend oft »Reichskristallnacht« genannt) betroffen waren und die Konsequenzen, die diese öffentliche Machtbekundung, getragen durch die deutsche Bevölkerung, für jüdische Menschen mit sich brachte. Vielmehr sprach der Bundestagspräsident von den Deutschen und deren Beteiligung oder Billigung der antisemitischen Hetze. Er nannte nicht nur die faschistischen Eliten als Täter, sondern sagte: »Viele ermöglichten durch ihre Gleichgültigkeit die Verbrechen. Viele wurden selbst zu Verbrechern.« Er thematisierte weiterhin den Vernichtungsantisemitismus und die lange Tradition des Antisemitismus in der deutschen Geschichte. Diese Aussagen, die Einnahme der Täterperspektive, waren eine neue Schwerpunktsetzung. Da Jenninger die rhetorischen Mittel der erlebten Rede und Zeitzeugenaussagen benutzte, diese Passagen während des Vortrags allerdings nicht kennzeichnete, wurde ihm mangelnde Distanzierung vom Nationalsozialismus vorgeworfen. Einige Abgeordnete verließen während des Vortrags den Saal, Jenninger geriet unter massive öffentliche (mediale) Kritik und trat zurück. Einige Inhalte der Rede sind durchaus zu kritisieren, z.B. die Überbetonung der ’Erfolge’ Hitlers, der theologische Bezug und die Ausführungen über die Zeit nach 1945, aber gerade die Einnahme der Täterperspektive und das Anliegen, die Schuldigen und nicht nur die Opfer zu benennen, gehören nicht dazu.(3)

Nur ein Jahr später, 1989, begann sich die deutsche Gesellschaft so umfassend zu ändern, dass die Betrachtung deutscher Geschichte im Inland und im Ausland unter ganz neuen Vorzeichen stand.

Nach 1989/90, also nach dem Umbruch in der DDR und der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, wurde Vergangenheit wieder vermehrt zum Thema. Im ’neuen’ Deutschland entwickelte sich ein Nationalgefühl, wie es vorher in den getrennten deutschen Staaten nicht gekannt wurde. Diese offensichtliche und öffentliche positive Bezugnahme auf Deutschland und deutsche Symbole (z.B. die Nationalfarben) hatten auch Auswirkungen auf die Betrachtung deutscher Geschichte. Zusätzlich musste Deutsche Politik nach außen zeigen, dass die Warnungen vor einem neuen Großdeutschland, die zum Teil im Ausland geäußert wurden, unberechtigt sind. Erinnerungspolitik sollte nicht notwendig einen Schlussstrich ziehen, aber die Diskussion in und um Deutschland doch eingrenzen. Deutschland musste sich geläutert präsentieren und dabei doch Möglichkeiten finden sich auf die eigene Geschichte auch positiv beziehen zu können. Nach den Brandanschlägen auf Unterkünfte von Asylsuchenden und den rassistischen Angriffen Anfang der 90er Jahre war man bemüht, keine Bezüge zur deutschen Geschichte herzustellen und den Taten ihre politische Motiviertheit abzusprechen. Statt offenen Rassismus als solchen zu benennen und gegen ihn vorzugehen, wurden die Angriffe auf Probleme seit der Wiedervereinigung und durch die Sozialisation in der DDR zurückgeführt.

Die Rede des Schriftstellers Martin Walser am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels stellt eine Zäsur des offiziellen Erinnerns dar, weil das erste Mal seit Anfang der 80er Jahre die Schuldanerkennung verweigert wurde. Walser hielt die Freiheit des Gewissens gegen die Macht der »Moralkeule« Auschwitz. Er sprach von der »Instrumentalisierung unserer (gemeint ist die deutsche, K.H.) Schande«. Damit gab er, wenn auch intellektueller formuliert, die Stimmung in der deutschen Bevölkerung wieder. Mit Sätzen wie: »Die, die mit solchen Sätzen (gemeint waren Warnungen vor dem deutschen Volkscharakter und negative Einschätzungen der Deutschen, K.H.) auftreten, wollen uns wehtun, weil sie finden, wir haben das verdient. Wahrscheinlich wollen sie auch sich selber verletzen. Aber uns auch. Alle. Eine Einschränkung: alle Deutschen.« Sagte Walser das, was im Privaten viele denken: Warum müssen wir uns immer schuldig fühlen? Auch dass Ignatz Bubis als damaliger Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland in der folgenden Debatte in die Schranken verwiesen wurde, wurde z.B. in Leserbriefen positiv aufgenommen.(4)

(4) Eine gute Analyse der so genannten Walser-Bubis-Debatte inklusive ausführlicher Literaturliste; die komplette Rede; Ein Interview mit Ignatz Bubis aus der Zeitung »Die Welt« vom 14. Oktober 1998 zur Kritik an Walsers Rede und »Ignatz Bubis antwortet Martin Walser«, Auszüge aus der Rede zum 60. Jahrestag der Reichspogromnacht 1998

Besonders markant für die Geschichtspolitik und Erinnerungskultur ab den 90er Jahren sind die Betonung der Leiden der Deutschen (Bombardierungserfahrungen, Flucht und Vertreibung) und die Wiederkehr der Totalitarismusthese, d.h. es wird von den ’beiden deutschen Diktaturen’ gesprochen und Nationalsozialismus mit dem Staatssozialismus der DDR verglichen. Gerade die Einweihung der Neuen Wache 1993, zeigt dieses Geschichtsverständnis deutlich. Sie wurde als zentrale Gedenkstätte des vereinigten Deutschlands »Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft« gewidmet.(5) Die Formulierung ’Opfer von Krieg’ macht keinen Unterschied zwischen Täterinnen, Tätern und Opfern. Ebenfalls zeigt sich bereits die Entwicklung, die heute aktueller denn je ist(6), Nationalsozialismus und DDR-Geschichte werden in eine Linie gesetzt. Alte Formen nationaler Repräsentation wurden wieder möglich.

(5) Der gesamte Text der Gedenktafel
(6) vgl. die Artikel zum Gedenkstättengesetz in diesem Dossier

In der deutschen Außenpolitik wird das neue Geschichtsverständnis besonders in Bezug auf den Kosovokrieg deutlich. SPD und Grüne, die 1998 die Bundestagswahlen gewonnen hatten, standen für ein anderes, moderneres Deutschland, und erst durch sie vollzog sich die vollständige Abkehr von den Beschränkungen, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg auferlegt worden waren. Der erste Angriffskrieg mit deutscher Beteilung seit 1939, der Kosovokrieg 1999, wurde mit einer Verantwortung gegenüber der Geschichte begründet. Deutschland zog nicht trotz sondern wegen Auschwitz in den Krieg im Kosovo (Joschka Fischer).(7) Diese Interpretation von militärischer Intervention ist exemplarisch für Erinnerungspolitik unter Rot/Grün, die deutsche Geschichte wird nicht abgeschlossen, sondern mit ihr wird offen Politik begründet. Das zeigt sich ganz aktuell an den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des D-Days, der Landung der alliierten Truppen in der Normandie. Mit Gerhard Schröder hat zum ersten Mal ein Vertreter des deutschen Staates an den Feierlichkeiten teilgenommen. Der Bundeskanzler sagte, dass mit dem diesjährigen D-Day die Nachkriegszeit endgültig vorbei sei.

Nächster Artikel: Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur in der DDR