Dreiecksbeziehung. Die Rolle der Medien im Erinnerungsdiskurs

Der Versuch, die Rolle der »Medien« im »Erinnerungsdiskurs« zu untersuchen, gleicht ein wenig dem Ansinnen, bei Google den Begriff »Wasser« nachzuschlagen. Vom Wasserwerk über den Mineralwasserhersteller bis zu hydrogeologischen Forschungsergebnissen dürfte alles Mögliche angezeigt werden. Deshalb muss vorher geklärt werden: Welche Erinnerung? Welche Medien? Der Filmregisseur Claude Lanzmann (»Shoah«) sagte 1998 auf einer Tagung in Marburg, indem er den bekannten Ausspruch eines Faschisten abwandelte: »wenn ich das Wort Erinnerung höre: Ich verspüre Lust, den Revolver zu ziehen. Mir scheint, dass man dieses Wort bei jeder besten Gelegenheit anwendet und überall beimischt.«(1) Man kann seinen Ärger verstehen. Erinnerung ist zu einem hohlen Schlagwort geworden. Es wird immer öfter über sie geredet – und die wenigsten machen sich dabei die Mühe, näher zu bestimmen, was denn damit gemeint sei. Erinnerung, die uns hier beschäftigen soll, ist die kollektive Erinnerung einer Gesellschaft, das sind die Geschichten über die Geschichte, die in der Familie, in den Schulen, in Filmen und Büchern erzählt werden. Das sind die Bilder, die die Menschen über die Vergangenheit sehen und mit ihren eigenen Erinnerungen verschmelzen. Das ist das Bild, das die Menschen von ihrer eigenen Vergangenheit und der ihrer Gesellschaft haben.

Dossier #11: Erinnerungskultur und Gedächtnispolitik

  1. Erinnerungskultur und Gedächtnispolitik
  2. Offizielles Erinnern in der BRD
    (Katharina Hamann)
  3. Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur in der DDR
    (Sylvia Gössel)
  4. Geglättete Erinnerung
    (Sebastian Kirschner)
  5. Wie erinnern?
    (Salomon Korn)
  6. Waagschalen-Mentalität
    (Martin Jander)
  7. Kein Mitleid mit den Deutschen
    (Marek Edelmann)
  8. Die Rolle der Medien im Erinnerungsdiskurs
    (Mathias Berek)
  9. Das Projekt Shoa.de
    (Stefan Mannes)
  10. BildungsBausteine gegen Antisemitismus
  11. Stolpersteine
  12. Literatur und Materialien

Und diese Erinnerung ist fast immer (die Menschen leben eben nur eine begrenzte Zeit und immer nur an einem Ort gleichzeitig) keine unmittelbare, sondern medial vermittelt. Eigentlich meint medial alle möglichen Kommunikationsmedien: Texte, Bilder, Orte, Rituale oder Traditionen. Was uns hier jedoch hauptsächlich interessiert, sind die modernen Massenmedien: Fernsehen, Filme, Zeitungen, – aber auch Bücher. Und um noch konkreter zu werden, geht es hier um die deutsche Erinnerungskultur und das Thema, das permanent erinnert oder vergessen werden sollte: Nationalsozialismus und Holocaust.

(1) Eine Diskussion mit Claude Lanzmann. In: Kulturamt der Stadt Marburg (Hg.): Formen der Erinnerung. Ein anderer Blick auf Gedenken, Erinnern und Erleben; eine Tagung. Marburg: Jonas Verlag 1998., S.14.

Boom der Erinnerungskultur?

Gerade für die letzten 20, 25 Jahre wird seit geraumer Zeit ein Boom der Erinnerung an NS-Zeit und Judenvernichtung diagnostiziert. Begründet wird die Einschätzung meist mit dem langsamen »Verschwinden der Augenzeugen« – die Erlebnisgeneration der Opfer und Täter stirbt aus – und mit neuen elektronischen Speichermedien. Im Ergebnis wurde vor allem außerhalb Deutschlands versucht, von überlebenden Opfern des Holocaust so viele Erlebnisberichte wie irgend möglich auf Video zu bringen, um sie der Nachwelt zu erhalten. Steven Spielbergs Shoah Foundation oder die Projekte in israelischen Gedenkstätten wie Massuah seien als Beispiele genannt. Dahinter steht die Befürchtung, mit dem Sterben der Zeitzeugen gehe auch deren authentische Erinnerung, die sie der Nachwelt im direkten Gespräch weitergeben können, für immer verloren.

Doch wir müssen weiter zurück schauen. Die Alliierten versuchten nach ihrem Sieg über Deutschland im Mai 1945 zunächst, der deutschen Bevölkerung Nachhilfe bei der Erinnerung an ihre Untaten zu geben. AnwohnerInnen von KZs wurden zwangsweise durch die Lager geführt, um ihnen die Leichenberge zu zeigen. Im Rahmen der Reeducation wurden den Deutschen unzählige Fotos und Filme von dem Grauen gezeigt, das die alliierten Einheiten bei der Befreiung der Lager vorgefunden hatten.

In den Westzonen etablierte sich mit dem Abbruch der Entnazifizierung ein Konsens des Schweigens. Schweigend machte man sich an den Wiederaufbau, vergessend konzentrierte man sich auf Familie und Arbeit, verdrängend hielt man Abstand von politischer Auseinandersetzung. Die Verbrechen der Deutschen im »Dritten Reich« und der Holocaust spielten in der Öffentlichkeit der 50er Jahre keine Rolle. Erst gegen Ende des Jahrzehnts gab es einen Umschwung: Übergriffe von Nazis nahmen zu, rechtsradikale Organisationen wurden wieder stärker und es gab eine ganze Serie von Anschlägen auf jüdische Friedhöfe. Vor allem von der Angst vor einem schlechten Ansehen im Ausland getrieben, erkannte man nun Mängel in der politischen Bildung. In dem TV-Film »Die Tagebücher des Jürgen Wilms« wurden 1960 erstmals Massenerschießungen von Jüdinnen und Juden gezeigt, 1961 erschien Erwin Leisers Dokumentarfilm »Mein Kampf«, der sich aufklärerisch mit der Entwicklung und den Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands befasste. Ab diesem Zeitpunkt setzte man sich auch in Romanen und Fotobänden zunehmend mit der nahen Vergangenheit auseinander – wenn auch oft unter dem Dogma der Totalitarismusthese, die Faschismus und Kommunismus gleichsetzt. Parallel dazu führten Magnetaufzeichnung, die Möglichkeit einer synchronen Aufnahme von Ton und Bild und die Durchsetzung des Fernsehens als Leitmedium dazu, dass die elektronischen Medien immer bedeutender für das kollektive Gedächtnis wurden. Sie wurden Träger von Diskursen und Archiv zur selben Zeit.

Einen ersten Boom der Erinnerung an die Shoah gab es jedoch erst 1979. Nach langwierigem Zögern und heftigen Widerständen strahlten die westdeutschen dritten Programme den amerikanischen TV-Mehrteiler »Holocaust« aus. Im Ersten durfte er nicht gezeigt werden, weil Bayern und Baden-Württemberg für diesen Fall mit einer Abschaltung ihrer Sender gedroht hatten. Trotz alledem erreichte der Film eine sensationelle Zuschauerzahl von 10 bis 13 Millionen, das ist eine Einschaltquote von 30-40%. Damit wurde der Film zu einem der wichtigsten Medienereignisse der BRD(2) – in der Öffentlichkeit wurde breit und ausführlich über ihn diskutiert. In Umfragen fühlten sich nach dem Film 80% der Zuschauerinnen und Zuschauer zu Diskussionen angeregt und 50% meinten, neue Informationen erhalten zu haben. »Holocaust« erzählt die Geschichte zweier deutscher Familien. Die eine beteiligt sich am nationalsozialistischen Projekt, die andere wird verfolgt, deportiert, ermordet, weil sie jüdisch ist. Nur ein Mitglied überlebt die Shoah. Die Tatsache, dass dieser Film im Allgemeinen als »Augenöffner« gilt, als Film, der unzähligen Deutschen »neue Informationen« gebracht habe, spricht Bände über das Verdrängen und Verschweigen in all den Jahren zuvor.(3)

Jedenfalls wurde sich in den Medien der BRD der achtziger Jahre immer mehr mit der eigenen Vergangenheit auseinandergesetzt. Als Beispiel sei hier der »Historikerstreit« genannt, den Ernst Nolte 1986 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom Zaun bricht.(4)

(2) Brandt, Susanne: Holocaust – redaktionell bearbeitet. Wie die Erstausstrahlung der Holocaust-Serie 1979 das deutsche Nackriegserinnern beeinflusste. Über den Zusammenhang von Fernsehen und kollektivem Gedächtnis. In: Zeitschrift für KulturAustausch, 49.1999, H.4, S. 89-91.
(3) Zeitgeschichte-online, Thema: Die Fernsehserie »Holocaust« – Rückblicke auf eine »betroffene Nation«. Beiträge und Materialien, März 2004
(4) Mit »Historikerstreit« bezeichnet man eine intensive Auseinandersetzung in der alten Bundesrepublik der 80er Jahre, die von einem Streit zwischen Ernst Nolte und Jürgen Habermas ausgelöst wurde. Der Hauptstreitpunkt dieser Kontroverse, an der sich die führenden Intellektuellen des Landes über mehrere Monate hin beteiligten, drehte sich um die Frage, ob die nationalsozialistischen Verbrechen tatsächlich einzigartig (»singulär«) sind, oder mit den stalinistischen Massenverbrechen gleich zu setzen sind.

Weitere Brüche in der deutschen Erinnerungskultur gab es durch die Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht«, die seit Ende der neunziger Jahre durch deutsche und österreichische Städte tourte, und durch Daniel J. Goldhagens Buch »Hitlers willige Helfer«. Jetzt wurde auch das jahrzehntelang gepflegte Bild von der »sauberen Wehrmacht« und damit hunderttausender deutscher Täter, die sich keiner Menschheitsverbrechen schuldig gemacht hätten, erschüttert. Und der Mythos, dass die meisten Gräuel eigentlich nur der SS zuzurechnen waren, nahm ebenfalls ernsthaften Schaden. In diese Reihe der ausführlich in den Massenmedien geführten Auseinandersetzungen gehört auch die regional gezeigte Ausstellung »Deutsche verwerten ihre Nachbarn«, die dokumentiert, wie die »ganz normalen Leute« das Hab und Gut ihrer deportierten jüdischen Nachbarn günstig ersteigerten.(5)

(5) Literatur: Betrifft: »Aktion 3«. Deutsche verwerten jüdische Nachbarn. Dokumente zur Arisierung. Ausgewählt und kommentiert von Wolfgang Dreßen. Aufbau-Verlag, Berlin 1998. Dazu auch ein Artikel in der Jungle World 7/99 und die Rezension im Newsletter zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Nr. 23/ 2002. Eine weitere Ausstellung zum Thema wurde vom Fritz-Bauer-Institut erarbeitet: Legalisierter Raub. Der Fiskus und die Ausplünderung der Juden in Hessen 1933-1945

Der Diskurs um die Vergangenheit ist zwar heute noch weit davon entfernt, sich ehrlich und kritisch mit der deutschen Vergangenheit auseinanderzusetzen, zumindest ist aber eine gewisse Pluralisierung und ein Ende des Verschweigens und Verdrängens zu erkennen. Gerade im Bereich der Medien Film und Fernsehen gerät der deutsche Erinnerungsdiskurs dabei immer stärker unter den Einfluss universeller Tendenzen. Der Film »Schindlers Liste« beispielsweise ist ein Projekt Steven Spielbergs, das seine Ursprünge viel mehr im amerikanischen Holocaust-Diskurs hat. Trotzdem ist er wichtig für die deutsche Erinnerungskultur gewesen. Auch spielt die Shoah außerhalb Deutschlands eine ganz andere Rolle als im Land der Täter. Sie wandelt sich zu einem universellen Symbol des Bösen, das sich ganz allgemein, nicht nur in Deutschland, »nicht wiederholen dürfe«. Diese Tendenz schlägt nun wieder auf den deutschen Diskurs zurück, wo nicht wenige darauf warten, den Holocaust in einer langen Reihe von Menschheitsverbrechen gleichberechtigt ein- oder gar unterzuordnen.

Und genau dieser Entwicklung sehen wir uns aktuell gegenüber. In den letzten Jahren gab es einen Schub an Fernsehreportagen und Bestseller-Romanen, die sich ein einziges Thema gesetzt haben: Die Deutschen als Opfer. Es geht um ihr Leiden, um ihr Bestehen in harten Zeiten und moralisch komplizierten Situationen. Günther Grass stellt in seinem Buch »Im Krebsgang« den Mythos um den Untergang des deutschen Flüchtlingsschiffes »Gustloff« ins Zentrum; Jörg Friedrich betreibt in seinem pathetischen Werk »Der Brand« eine heimtückische semantische Enteignung, indem der von den »Krematorien« und »Gaskammern« der deutschen Luftschutzkeller schreibt; Bernhard Schlink geht es in »Der Vorleser« um die verbreitete Mär vom schuldlos schuldig Werden während der Nazizeit; und Ulla Hahn lässt ihren Wehrmachtssoldaten Musbach gleich viermal ent-schulden: Auf einem Foto ist zwar abgebildet, wie er einen Gefangenen erschießt – ABER: er hat danebengeschossen, er wurde dabei ohnmächtig, er erschlug nach dem Aufwachen den SS-Mann, der ihm den Befehl gegeben hatte, als dieser gerade eine Partisanin vergewaltigen wollte, und brannte mit dieser dann – als Liebespaar – durch, und: nach dem Krieg hat er als Lehrer versucht, den deutschen Kindern beizubringen, dass sich der Nationalsozialismus nicht wiederholen solle.

Zwar gibt es auch Bücher, die andere Töne anstimmen, aber der hörbare Teil des derzeitigen Opferdiskurses singt davon, Redetabus über deutsches Leiden zu durchbrechen, die nachweislich nie bestanden haben. Dabei wird ein Diskurs fortgesetzt, in dem man über die Täter und ihre Taten möglichst nur »unscharfe Bilder« (Ulla Hahn) sehen möchte und einfordert, doch jetzt auch mal über die Traumatisierungen der deutschen Bevölkerung zu reden. Wo dabei keine Umkehrung von Täter- und Opferrolle stattfindet, geht es zumindest um die Versöhnung mit der Vergangenheit und ihren Akteurinnen und Akteuren, denen doch Friede gegönnt sein solle, wo doch schon so viel Wiedergutmachung und Sühne geleistet worden sei.

Bann der Bilder, Wahn der Wahrheit

»Die einzigen Versionen der NS-Zeit sind die Bilder, die es auf den Schirm geschafft haben«.(6) Kollektive Erinnerungen und durch sie die individuellen Erinnerungen sind meistens von Bildern geprägt. Seien es Fotos, seien es Erzählungen, seien es Filmbilder. Dem Bild wird die größte Macht zugeschrieben, sich ins Gedächtnis einzugraben. An dieser Stelle wird die Bedeutung der Medien für die Erinnerung deutlich. Denn woher haben wir unsere Bilder von der Vergangenheit, die wir nicht selbst erlebt haben? – Aus dem Fernsehen, aus Filmen, von Fotos, aus Romanen. Die psychologische Gedächtnisforschung ist sich heute sicher, dass bei der Erinnerung von Erlebnissen die Gefühle entscheidend sind, mit denen das zu Erinnernde aufgenommen wurde. Einige gehen sogar soweit, die Gefühle, nicht das Ereignis würden erinnert. Da die (massen-)medial vermittelten Bilder selbst schon aufgrund ihrer Emotionalität dafür ausgesucht werden, es »auf den zu Schirm zu schaffen«, verstärkt sich der mediale Anteil an dem, was wir erinnern, nochmals.

(6) Insdorf, Annette: Indelible Shadows. Film and the Holocaust. Cambridge: Cambridge University Press 1989. S. XVII.

Und es geht nicht nur um die Emotionalität von Bildern: das Bild erscheint am meisten glaubwürdig. Bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit spielt die Authentizität eine beinahe kultische Rolle. Die Überlieferung, der Zeitzeuge oder das Relikt sollen so authentisch wie möglich sein – wobei immer davon ausgegangen wird, dass es eine historische Wahrheit geben müsse. Dieser unverrückbaren Wahrheit könne sich die Erinnerung immer nur mehr oder weniger annähern. Vergessen wird dabei, dass auch die als authentisch geltenden Bilder bereits immer auf irgendeine Art gestellt, konstruiert sind: der Fotograf wählt eine bestimmte Situation aus, einen bestimmten Standpunkt, die Menschen auf dem Foto reagieren auf die Anwesenheit des Fotografen und auf das vermutete Publikum des zukünftigen Bildes, kurz: der Akt des Fotografierens verändert bereits den Ausschnitt der Welt, der abgebildet werden soll.(7)

(7) Koch, Gertrud: Film, Fernsehen und neue Medien. In: Knigge, Volkhart / Frei, Norbert (Hg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord. München: Beck 2002, S 412-422.

Ein weiteres Problem ist die Quellenlage bei Bildern aus dem Nationalsozialismus. In den meisten Fällen ist nur Material vorhanden, das die Täter aufgenommen haben: Wehrmachtssoldaten, Propagandakompanie, SS-Wächter oder Ghetto-Verwalter. Dass diese bei ihren Foto- und Filmaufnahmen immer nur den Blickwinkel der Täter repräsentieren, ist klar. So besteht bei Verwendung dieses Materials immer die große Gefahr, die Opfer ein weiteres Mal zu entwürdigen. Und selbst die Täter durften nicht überall und alles dokumentieren. Gerade der Prozeß der Vernichtung unterlag einem strengen Bilderverbot – weshalb es auch keine Filme aus den Gaskammern gibt. Hätten die Deutschen genügend Zeit gehabt, wären nicht nur die Konzentrationslager eingeebnet und die an der Einäscherung der Ermordeten beteiligten Häftlings-Sonderkommandos ihrerseits getötet gewesen. Es würde auch kaum irgendwelche Aufnahmen vom Zustand in den Lagern geben. Die meisten dieser Dokumente entstanden nach der Befreiung durch alliierte Soldaten.

Gänzlich unberührt ist bis hierher die Frage geblieben, inwieweit die Shoah überhaupt medial dargestellt werden kann. Exemplarisch für diese (lange) Debatte stehen die beiden Filme »Shoah« von Claude Lanzmann und Steven Spielbergs »Schindlers Liste«. Im ersten, einem über neunstündigen Film, lässt Lanzmann Überlebende der deutschen Judenvernichtung zu Wort kommen, getrennt von diesen aber auch die Täter. Er verzichtet gänzlich auf »dokumentarisches« Material, auf Bilder, auf Analyse und Musik. Sein Ziel ist es, den Vorgang der Erinnerung zu zeigen, und diese wiederum in Erinnerung zu halten. »Bilder töten die Imagination«, so Lanzmann.(8) Ganz im Gegensatz dazu hat Spielberg sich für die Bilder entschieden und sich damit dem Vorwurf der Trivialisierung ausgesetzt, wie schon die »Holocaust« – Serie.

(8) Lanzmann, Claude: Ihr sollt nicht weinen. Einspruch gegen Schindlers Liste. In: FAZ, 5.3.1994.

In Konventionen gefangen

Mediale Darstellungen der Vergangenheit bleiben (fast) immer in ihren Konventionen gefangen. Untersuchungen deutscher Nachkriegsfilme(9) machen deutlich, dass daraus durchaus unangenehme Konsequenzen erwachsen. Der konventionelle Anspruch an fiktionale Filme, die ZuschauerInnen müssten sich immer mit HeldInnen identifizieren können, führt dazu, dass die Hauptpersonen immer irgendwie menschlich verständlich handeln – selbst wenn sie zu den TäterInnen gehören. Oder dazu, dass sowieso meistens nur WiderstandskämpferInnen als Hauptfiguren agieren. Wahrscheinlich ist diese Dominanz widerständiger Deutscher im deutschen Film über die Nazizeit auch ein Grund dafür, dass die Mehrheit in den Familien denkt, ihre Eltern und Großeltern wären keine Nazis gewesen, hätten dagegen sogar auf irgendeine Art Widerstand geleistet. (10) Auch die typischen Erzählstrukturen wie »Einzelheld/ Einzelheldin«, »Widerstand gegen eine Übermacht«, »unschlagbarer Wille« oder »Märtyrertum« führen zu einer kollektiven Erinnerung, die mit den historischen Fakten nicht mehr viel zu tun haben.

(9) Reimer, Robert C. und Reimer, Carol C.: Nazi-Retro Film. How German Narrative Cinema remembers the Past. New York: Twayne Publishers 1992; Insdorf, Annette: Indelible Shadows.
(10) siehe Welzer, Harald/Moller, S./Tschuggnall, K.: »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt/M.: Fischer 2002.

Gute und böse Absichten

Hier soll nun nicht der Eindruck entstehen, allein dramaturgische Konventionen seien für Entschuldungs- und Verdrängungsmuster in deutschen Medien verantwortlich. Mitnichten. Vielmehr spielen bewusste und unbewusste Motive, gute und böse Absichten, philo- und antisemitische Ressentiments eine tragende Rolle. In R.W.Fassbinders Film über die Nazizeit »Lily Marleen« beispielsweise werden Juden nur als reiche, unsympathische Leute, die sich immer freikaufen konnten, wenn sie wollten, dargestellt. Die Bilder von den Deutschen als Opfer dagegen werden bedient, in dem ganz melodramatisch »6 Millionen« (!!) deutsche Soldaten der Filmheldin Willie bei ihrem Song zuhören und traurig werden. Generell tendieren deutsche Filme über das »Dritte Reich« dazu, nicht nur den Holocaust, sondern teilweise auch den Nationalsozialismus auszublenden. Die Nazis sind immer die anderen – dämonisierte, böse, beinahe ausserirdische Gestalten, zu denen die dargestellten guten Deutschen eigentlich nie dazugehörten. Die ZuschauerInnen können bequeme Distanz wahren und ihr Gedächtnis mit Bildern von anständigen Deutschen in schwierigen Zeiten füllen, die tapfer und ehrbar ihre Bürde trugen.

Auch in der Kinder- und Jugendliteratur finden sich schon vor der oben beschriebenen heutigen Lage düstere Zustände. Eine Studie (11), die die bis 1986 erschienenen Titel untersuchte, fand, dass sich gerade 0,1% von diesen überhaupt mit dem Nationalsozialismus beschäftigte, von diesen wiederum nur die Hälfte auch aus Deutschland stammte. Bis 1980 beschäftigten sich die NS-bezogenen Bücher mit folgenden Themen: Flucht der Deutschen 50%, Krieg 14%, Jugend im NS 10%, Judenverfolgung 9%, Widerstand 8%. Eine andere Untersuchung(12) beschränkte sich auf geschichtliche Mainstream-Jugendliteratur. In dieser wurden meist untypische Ereignisse wie Widerstand oder Hilfe für Jüdinnen und Juden behandelt, während die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung immer mit der Deportation aufhörte: Es gab in diesen Büchern weder KZs noch Vernichtung. Auch NS-UnterstützerInnen kamen kaum vor – und wenn, dann nur in Form von extrem negativen, monster-ähnlichen Gestalten. Die Hauptfiguren dagegen waren ausnahmlos gegen die Nazis und handelten entsprechend. Doch es gibt darüber hinaus auch noch antisemitische Zuschreibungen in diesen Büchern, etwa das Stereotyp, dass die jüdischen Familien die reicheren sind als die deutschen. Teilweise wird sogar das körperliche Stereotyp vom kleinwüchsigen Juden mit dunklen Haaren wiederholt, ja selbst die krumme Nase taucht auf… "Nach der deutschen Kinder- und Jugendliteratur hatten die Juden in Deutschland nicht nur viele Freunde, sondern zu viele Freunde. Alle waren mit ihnen befreundet und wollten ihnen helfen. Es war nur Hitler, der die Juden »nicht leiden« konnte."(13)

(11) Dahrendorf, Malte: Die Darstellung des Holocaust in der westdeutschen Kinder- und Jugendliteratur. In: Antisemitismus und Holocaust. Ihre Darstellung und Verarbeitung in der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Oldenburg 1988, Katalog zur Ausstellung im Rahmen der 14.Oldenburger Kinder- und Jugendbuchmesse 1988 im Stadtmuseum Oldenburg, S. 83-96.
(12) Shavit, Zohar: Gesellschaftliches Bewußtsein und literarische Stereotypen, oder: Wie Nationalsozialismus und Holocaust in der deutschen Kinder- und Jugendliteratur behandelt werden. In: Antisemitismus und Holocaust, S.97-107.
(13) ebenda, S.106.

Ähnliche Stereotype lassen sich auch in tagesaktuellen Medien ausmachen. Eine Studie aus Österreich(14) untersuchte ausgewählte führende Tageszeitungen von 1945-1995 auf das gängige Bild von der »Wehrmacht als sauber kämpfender Truppe«, die (ebenso wie in ihrem Selbstbild die ÖsterreicherInnen) nur »mit hineingezogen« wurde in den Nationalsozialismus. Mit einer Vielzahl von Mitteln wurden in den Zeitungen die Opferrolle der Wehrmachtssoldaten und ihr vermeintlich ritterlich fairer Kampf konstruiert. Es wurde relativiert (»Versailles ist schuld, Hitler wollte nur einem Angriff der Sowjetunion zuvorkommen, der Partisanenkrieg war erst der Auslöser deutscher Gräueltaten, in den Gulags starben auch viele…«); sprachliche Abschwächungen und Verstärkungen unterstrichen die Konstruktion (für deutsche/österreichische Aktivitäten subjektlose Passivkonstruktionen und neutrale Attribute – für alliierte Aktionen dagegen emotionale Beschreibungen wie »abschlachten«); es gab Tabuthemen (Vernichtung, Zusammenarbeit SS und Wehrmacht, Freiwilligkeit) und es wurde genau ausgewählt, wer reden durfte (jüdische und andere KZ-Überlebende kamen nicht zu Wort, dafür oft die »Heimkehrer«).

(14) Alexander Pollak: Zwischen Erinnerung und Tabu – Die diskursive Konstruktion des Mythos von der »sauberen Wehrmacht« in den österreichischen Medien nach 1945. In: Folia Linguistica XXXV/1-2, Berlin 2001, S. 131-156.

Die Motive hinter all diesen Strategien sind relativ klar: Deutsche bzw. Österreicher wollen sich und ihre Vorfahren von der Schuld der nationalsozialistischen Verbrechen befreien und/oder am besten gar nicht mehr an diese Vergangenheit erinnert werden.

Macht, Medien, Erinnerung

Der Zusammenhang zwischen Medien und Erinnerungsdiskurs ist weder eine Einbahnstraße noch überhaupt mit einer simplen Ursache-Wirkungs-Beschreibung zu erfassen. Auch ist er nicht auf diese beiden Pole beschränkt. Denn beide hängen gleichzeitig mit den Machtverhältnissen in der Gesellschaft zusammen. Gesellschaftliche Gruppen und Institutionen versuchen, ihre Existenz, ihre Identität und ihre Macht über eine jeweils passende Erinnerung zu legitimieren. Die Vergangenheit ist immer an den Interessen der Gegenwart ausgerichtet. Das heißt, die aktuellen Bedürfnisse gesellschaftlicher Gruppen und Institutionen bestimmen, wie Geschichte konstruiert und ausgelegt wird. Somit ist die historische Wahrheit immer abhängig von den an die Fakten gestellten Fragen. Und auch der Erinnerungsdiskurs ist abhängig von den aktuellen Interessen und Bedürfnissen gesellschaftlicher Gruppen und Institutionen.

Die hier besprochenen Medien stehen dabei an einem Ort, der ihrem Namen gerecht wird: dazwischen. Sie bilden mit der Erinnerungskultur und den aktuellen gesellschaftlichen Interessen einen Zusammenhang der gegenseitigen Abhängigkeit. Wie sieht das konkret aus?

Gesellschaftliche Gruppen und Institutionen haben bestimmte aktuelle Interessen. Aus diesen folgen bestimmte Ansprüche an ein Bild der Vergangenheit. Diese Ansprüche wiederum sorgen für eine bestimmte mediale Vermittlung dieses Vergangenheitsbilds und prägen dadurch die kollektive Erinnerung (oder einen Teil von ihr). Diese kollektive Erinnerung nun wird von einer bestimmten Gruppe von Menschen in der Gesellschaft geteilt, sie werden mit ihr sozialisiert, nehmen sie in ihre individuelle Erinnerung, also ihr Geschichtsbild auf. Und diese Menschen schließlich sind selber wieder aktiv in der Formulierung und Verfolgung von aktuellen Interessen – innerhalb bestimmter Gruppen oder Institutionen. Womit sich der Kreis schließt. Um den ganzen Zusammenhang noch komplexer zu machen, sei noch darauf hingewiesen, dass sowohl die AkteurInnen innerhalb der Medien-Institutionen noch ihre eigenen Interessen verfolgen, als auch die Medien die gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen beeinflussen. Und nicht zuletzt sind auch die MedienakteurInnen von einer bestimmten Erinnerungskultur geprägt. Also: Die in der Gegenwart medial konstruierte Vergangenheit konstruiert die Gegenwart.

Das alles ist ziemlich kompliziert, deshalb braucht es Beispiele: Der bayrische Rundfunk und die südwestdeutschen Sender wollten die Ausstrahlung von »Holocaust« verhindern. Bekanntermaßen sind die öffentlich-rechtlichen Sender keineswegs so politikfern, wie sie und die Politik gern behaupten. Es zeigt sich an diesem Verhalten also deutlich der Versuch der bayrischen und baden-württembergischen Landespolitik, diesen bedeutenden Umbruch in der deutschen Erinnerungskultur, nämlich eine weite Teile der Bevölkerung erreichende Personifizierung der deutschen Untaten durch eine verfilmte Geschichte, abzuwenden. Zu ihrer Motivation liegt keine empirische Analyse vor, ich darf jedoch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit annehmen, dass es hier um die Fortsetzung der Verdrängung, des Schweigens über die TäterInnen und ihre Taten und vor allem um eine Vermeidung einer erneuten Diskussion um deutsche Schuld ging.

Andererseits waren bei den Sendern, die die Ausstrahlung der Serie vorantrieben, vornehmlich dem WDR, ebenfalls politische Interessen im Spiel. In Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung sollte erreicht werden, der Öffentlichkeit ihre (vorhandenen) Wissenslücken zum Holocaust nachzuweisen und die Nachfrage nach Bildung und Information anzukurbeln. Außerdem sollte eine öffentliche Diskussion über die Verbrechen der Deutschen im »Dritten Reich« angestoßen werden, unter anderem, da es Bestrebungen gab, die anstehende Verjährungsfrist für Kriegsverbrechen aufzuheben. Nicht zufällig wurde in der vorher und nachher durchgeführten ZuschauerInnenbefragung auch die Frage gestellt, ob die Interviewten eine weitere Verfolgung von Kriegsverbrechen und Verbrechen des Nationalsozialismus bejahen würden. Die Zustimmung stieg durch die Sendung von 15 auf 39% bzw. von 33 auf 50%.(15)

(15) Brandt, Susanne: Holocaust – redaktionell bearbeitet, S.90.

Und es wurde noch weiter Einfluss auf die kollektive Erinnerung genommen. In der internationalen Version endet die Serie positiv: Der letzte Überlebende der Familie Weiss beteiligt sich nach der Befreiung von Theresienstadt am heimlichen Transport jüdischer Kinder nach Palästina – ein Schluss, der den Zusammenhang von Shoah und Israels Staatsgründung stark macht. In der deutschen Version jedoch wurden diese letzten sieben Minuten des Films weggelassen. Es bleiben keine positiven Visionen von Rettung und Neuanfang für die überlebenden Opfer als Schlussaussage stehen. Am Ende stehen stattdessen die Sätze eines Mitglieds der deutschen Täterfamilie zur Schuld, die sie auf sich geladen hat.

All diese Prozesse sollen nun keinesfalls als böse, normverletzende Ausnahmen gelten. Dies ist vielmehr die Art und Weise, in der – grob beschrieben – das Zusammenspiel von Erinnerung und Medien in komplexen modernen Gesellschaften funktioniert. Wie schon erwähnt, existiert eine wahre kollektive Erinnerung nicht. Kollektive Erinnerung ist immer umstritten und deshalb immer politisch.(16)

(16) Saar, Martin: Wem gehört das kollektive Gedächtnis? Ein sozialhistorischer Ausblick auf Kultur, Multikulturalismus und Erinnerung. In: Echterhoff, Gerald/Saar, Martin (Hg.): Kontexte und Kulturen der Erinnerung. Maurice Halbwachs und das Paradigma des sozialen Gedächtnisses. Konstanz: UVK 2002, S.267-278.

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