Wie erinnern?

von Salomon Korn

Eröffnungsvortrag der Reihe »Jüdische Lebenswelten« in der Synagoge Leipzig am 24. März 2004, aus Anlass der Leipziger Buchmesse 2004

Wie erinnern? Zur Beantwortung dieser Frage habe ich Neues gelesen und früher Gelesenes wieder gelesen. Jetzt stelle ich fest: an das meiste davon erinnere ich mich nicht mehr. Ist das bedauerlich? Nur bedingt, denn wenn es für das vorliegende Thema wirklich von Bedeutung gewesen wäre, hätte ich es vermutlich nicht so schnell vergessen. In Erinnerung ist mir allerdings Michel de Montaignes Klage über sein schlechtes Gedächtnis geblieben. Nicht, dass er sich dessen rühmen würde, nein, aber allzu groß ist auch sein Bedauern nicht über diese von ihm umstandslos eingestandene Gedächtnisschwäche. Ihre Vorzüge sieht er vor allem in seinen notwendigerweise kurz gehaltenen Reden, im Umstand, sich viel Überflüssiges gar nicht erst merken zu müssen und erlittene Kränkungen schnell zu vergessen. Außerdem, so Montaigne, »lachen mich nun die mir entfallenen Orte und Bücher, wenn ich ihnen wieder begegne, stets mit der Frische des völlig Neuen an«. Diese Gelassenheit kann der Autor der berühmten, im 16. Jahrhundert verfassten »Essais« an den Tag legen, weil er weiß, »daß ein ausgezeichnetes Gedächtnis oft mit schwachem Urteilsvermögen Hand in Hand geht«. Und so legt er größeren Wert auf Verstand als auf Buchwissen, denn es ist nicht das Gedächtnis, sondern der Verstand, der aus allem Nutzen zieht.

Ähnlich argumentiert 300 Jahre später Friedrich Nietzsche in seiner Abhandlung »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«. Wie Montaigne verpönt auch er Faktenwissen und Gelehrsamkeit, wenn sie nicht im Dienste einer kritischen, dem Leben zugewandten Geschichtsbetrachtung stehen. Alles, was von diesem Ziel fortführt, darf dem Vergessen anheimfallen. Wie also erinnern?

An Montaigne und Nietzsche geschult lautet eine erste Antwort darauf: kritisch gegenüber dem Gegenstand der Erinnerung. Dies gilt, in Anlehnung an Nietzsche, gleichermaßen gegenüber der Geschichtsschreibung, die zwar nicht identisch mit Erinnerung ist, sich aber in Teilbereichen mit ihr überschneidet. Historiografie versucht Ereignisse der Geschichte, die schriftlichen und mündlichen Erinnerungen an sie, möglichst objektiv zu ermitteln, aufzuzeichnen und weiterzugeben. Bei allem zugestandenen Bemühen um Objektivität: Geschichtsschreibung kann nicht gänzlich frei bleiben von der subjektiven Perspektive derer, die historische Fakten in ausgewählte Zusammenhänge von Ursache und Wirkung stellen. Doch trotz solcher Einwände gegen eine gänzlich objektivierbare Historiografie: In den meisten Fällen lassen sich, zumal im Bereich der neueren Geschichte, Tatsachenbehauptungen überprüfen und fragwürdigen Geschichtsbetrachtungen stets plausiblere entgegensetzen.

Diese »objektivierende« Überprüfbarkeit unterscheidet Geschichtsschreibung grundsätzlich von Erinnerung. Letztere ist vor allem gekennzeichnet durch ihre Bindung an einzelne Menschen, an deren jeweils unterschiedlich ausgeprägte Fähigkeit, sich an Erlebtes, Erzähltes, Gelesenes, an eigene Träume und Phantasien zu erinnern. Daher sind Erinnerungen keine »neutral« gespeicherten Informationen, sondern an positive oder negative Gefühle gebundene Bilder und Gedächtnisinhalte. Diese affektive Einfärbung allein kennzeichnet Erinnerung als subjektives Phänomen.

Neben dieser subjektiven Qualität kommt Erinnerung noch eine zielgerichtete und zweckbestimmte zu. Erinnerung dient nicht nur praktischer Notwendigkeit; sie erfüllt gleichzeitig Bedürfnisse nach Legitimation, weil sie im Dienste des jeweiligen Menschen zur Aufrechterhaltung seines Selbstwertgefühles und der idealisierenden Selbstwahrnehmung seiner eigenen Biografie steht. Daher wandelt unser ständig kontrollierendes Legitimationsbedürfnis für uns unpassende Erinnerungen in »passende« um: je unpassender die Erinnerung, desto stärker das Legitimationsbedürfnis. Besonders stark wird es, wenn das von nationalsozialistischen Deutschen begangene Jahrtausendverbrechen mit der eigenen nationalen Identität in Einklang gebracht werden soll.

Weil Identifizierung qua Definition nur mit positiven Inhalten möglich ist, musste »negative Identifizierung« und daraus folgend »negative Identität« ein Widerspruch in sich bleiben. Dennoch ist Auschwitz, gewollt oder ungewollt, Teil deutscher Geschichte und damit Teil nationaler deutscher Identität. Die Dimension des Verbrechens aber verhindert eine – vermutlich nicht leistbare – Integration der ungeheuerlichen Tatsachen in das individuelle und kollektive Bewusstsein der Deutschen. Um das Ausmaß des Verbrechens, sofern man sich ihm überhaupt stellt, ansatzweise ertragen zu können, muss es gefühlsmäßig auf Distanz gehalten werden. Das hat Folgen für die individuelle Erinnerung, sei sie authentisch, sei sie angeeignet. Deren Qualität ist nicht in erster Linie abhängig vom Umfang der im Gedächtnis gespeicherten Informationen, sondern von den mit den erinnerten Vorstellungen und Bildern verknüpften Gefühlsanteilen, den Affekten. Erst sie geben der Erinnerung Gewicht, Wert und Dauerhaftigkeit. Positiv assoziierte Affekte helfen Erinnerung stärker zu verankern, weil sie nicht nur als neutrale Information im Gedächtnis gespeichert, sondern parallel dazu mit dem Gefühlshaushalt gekoppelt ist. Negative Affekte verstärken die Neigung, die mit ihnen verknüpften Erinnerungen abzuwehren, zu beschönigen, zu verdrängen und schließlich zu leugnen.

Vermutlich konnte und kann Auschwitz, wenn überhaupt, nur dann Teil einer nationalen Identität der Deutschen werden, wenn der Affekt, der Gefühlsanteil der Erinnerung, von der Assoziation, dem Informationsanteil dieser Erinnerung, weitgehend getrennt bleibt. Dies ist ein labiler, partiell auch traumatisierender Erinnerungszustand, der wegen seiner negativen Affektanteile stets von Abwehr, Leugnung und Verdrängung bedroht bleibt. Das zeigte sich unmittelbar nach Kriegsende im Wunsch der meisten Deutschen nach Flucht aus der Erinnerung, nach Umdeutung der nationalsozialistischen Vergangenheit und nach rascher Generalamnestie.

Das Ergebnis der auf dem Gebiet der früheren BRD frühzeitig verabschiedeten Amnestiegesetze von 1949, 1951 und 1953 entlastete die Mehrheit der Deutschen von ihrer Mitverantwortung an den nationalsozialistischen Verbrechen, denn deren Lebenslüge lautete fortan: der Nationalsozialismus war über Deutschland wie eine Naturkatastrophe hereingebrochen, so, als seien Nationalsozialisten keine Deutschen, sondern Invasoren gewesen, die Deutschland gegen den Willen der Deutschen besetzt und unterdrückt hätten: sie selbst sahen sich nun – die Geschichte auf den Kopf stellend – als unschuldige Opfer von Krieg und Vertreibung und nicht zuletzt – wie schon einmal nach dem Ersten Weltkrieg – als Opfer einer ungerechten »Siegerjustiz« der alliierten Besatzungsmacht.

Unter dieser Legitimationsstrategie bedeutete für die Mehrzahl der Westdeutschen Vergangenheitspolitik nicht notwendige Auseinandersetzung mit dem dunkelsten Kapitel der eigenen Geschichte, sondern Strafaufhebung und Integrationsleistung zugunsten Millionen ehemaliger nationalsozialistischer Parteigenossen. In ihrer Mehrheit wussten und leugneten die Deutschen zugleich, dass über die längste Zeit seiner Dauer das »Dritte Reich« im Inneren nicht auf die Ausübung von Terror und Gewalt angewiesen war, sondern sich sowohl bei den »einfachen Volksgenossen« als auch den Eliten großer Integrationskraft und hohen Zuspruchs erfreute.

Lässt sich – und hier zitiere ich Volkhard Knigge – der westdeutsche Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit als mühsamer Prozess innergesellschaftlicher Auseinandersetzung beschreiben, der vor allem nach 1968 mehr oder weniger freiwillig vom Beschweigen über die moralische Distanzierung hin zur konkreten, Opfern wie Tätern Gesicht und Namen gebenden Auseinandersetzung geführt hat, so folgte die Erinnerungskultur der DDR engen staatlichen Vorgaben. Auch wenn dort die Entnazifizierung konsequenter als in der Bundesrepublik durchgeführt wurde, war die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus verengt und dogmatisch. Die Verbindung von »Volksgemeinschaft« und Ausgrenzung der »Gemeinschaftsfremden« bis hin zum Genozid an den europäischen Juden als deren spezifisches Merkmal geriet als solche nicht in den Blick. Sie wurde vielmehr durch die offizielle Faschismus-Doktrin – die reaktionärsten, chauvinistischsten und imperialistischsten Elemente des Finanzkapitals hätten sich zu ihrer Rettung mit der verbrecherischen Hitler-Clique gegen das eigene Volk verbündet – überblendet. Da in der DDR die »Wurzeln des Faschismus« durch Verstaatlichung und Landreform als ausgerottet galten, erschien dort der Nationalsozialismus zudem als abgeschlossene Vergangenheit mit der Folge, dass die eigene Gesellschaft kritischer Selbstreflexion nicht mehr bedurfte. Auf ganz andere und doch ähnliche Weise wie in der Bundesrepublik entlastete dieses Geschichtsbild: die Alltagsdeutschen des »Dritten Reiches« – und damit sein Charakter als weitgehende Konsensdiktatur – gerieten nicht in den Blick, das deutsche Volk erschien als Opfer, die Vergangenheit als endgültig überwunden. Die Folgen dieser jahrzehntelang versäumten Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit sind deshalb besonders in den neuen Bundesländern bis heute schmerzlich zu spüren und werden es auf lange Zeit hinaus bleiben.

Aus den hier nur kurz beschriebenen Auseinandersetzungen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der ehemaligen BRD und ehemaligen DDR lassen sich folgende Erfahrungen festhalten: Die Bereitschaft zum Erinnern und Gedenken ist abhängig vom Verhältnis des Einzelnen zur eigenen Geschichte, zur Geschichte des eigenen Volkes und abhängig vom Grad der Identifizierung mit Volk, Staat oder Nation. Je näher und unverbrüchlicher man zu den Geschicken der eigenen Gemeinschaft steht, desto eher wird man die Erinnerung an deren Geschichte, die dann auch als eigene empfunden wird, zu bewahren suchen. Je ambivalenter, schwieriger und brüchiger die Vergangenheit des Volkes ist, dem man angehört, desto mehr Überwindung erfordert die Beschäftigung mit dessen Geschichte, die dann als eigene eher abgewehrt wird. Erinnern und Gedenken werden unter diesen Voraussetzungen zur mühsamen Tätigkeit; sie konfrontieren mit den dunklen Seiten der eigenen Gemeinschaft und erschweren die Ausbildung einer ungebrochenen Identität mit dieser. Erinnern und Gedenken bedeuten dann immer auch Auseinandersetzung mit den Biografien der eigenen Eltern, Großeltern, Vorfahren. Die Bereitschaft, der nationalsozialistischen Verbrechen aufrichtig zu gedenken, hängt von der Bereitschaft der nichtjüdischen Deutschen ab, nationale Identität in ihren geschichtlich geformten Brechungen und Diskontinuitäten anzunehmen – sich eben nicht in eine scheinbar heile nationale Identität zu flüchten, die zwangsläufig die Erinnerung an den nationalsozialistischen Massenmord auf ihre Bedürfnisse hin verbiegen, relativieren und schließlich verfälschen muss.

Diese Wechselwirkung zwischen Erinnerungsbereitschaft und nationalem Selbstverständnis zeigt, dass es unterschiedliche Ausprägungen des Erinnerns und Gedenkens auf der Seite derer gibt, die Nachfahren der Opfer und derer, die Nachfahren der Beteiligtengeneration sind. Die Nachfahren der Beteiligtengeneration können nicht in gleicher Intensität um die ihnen ferner stehenden Opfer des Völkermordes trauern wie die unmittelbar betroffenen Nachfahren der Ermordeten oder Überlebenden. Während letztere im Gedenken vorwiegend die Erinnerung an die Ermordeten der eigenen Familie, des eigenen Volkes bewahren, müsste das Gedenken der Nachfahren der Beteiligtengeneration an die Opfer des nationalsozialistischen Massenmordes immer auch die Erinnerung an Verbrechen des eigenen Volkes sowie Fragen nach deren Ursachen und Folgen einschließen. Dem aber stand und steht das Bedürfnis nach Legitimation der eigenen Geschichte, Familiengeschichte und Geschichte des eigenen Volkes entgegen.

Die langwellige untergründige Dünung, die das nationalsozialistische Jahrtausendverbrechen für mindestens ein Jahrhundert hinterlassen hat, war in der Vergangenheit immer wieder an der Oberfläche gesellschaftlicher Wirklichkeit spürbar gewesen. Beispiele hierfür sind der Faßbinder-Konflikt, der Historikerstreit, die Auseinandersetzungen um Bitburg, die Kontroverse um das Holocaust-Mahnmal, die Bubis-Walser-Debatte, die Debatten um die Wehrmachts-Ausstellung, das Goldhagen-Buch, die Entschädigungen für Zwangsarbeiter und das geplante Zentrum gegen Vertreibungen sowie die Affären um Möllemann und Hohmann.

Aktuelle Beispiele für die anhaltenden Selbstfindungsdebatten der Deutschen sind das »Sächsische Gedenkstättengesetz« und der CDU/CSU-Antrag zur »Förderung von Gedenkstätten zur Diktaturgeschichte in Deutschland«. Beide zeigen in ihrem Wortlaut deutliche Tendenzen zur Verharmlosung der nationalistischen Verbrechen durch deren terminologische Gleichsetzung mit Verbrechen der sowjetischen Besatzung und des SED-Regimes. Wiederholt und ohne jede Differenzierung ist dort zum Beispiel die Rede von »Widerstand gegen die Diktaturen«, von »Opfer der beiden deutschen Diktaturen«, von »beiden totalitären Diktaturen« und von »doppelter Vergangenheit« (anstelle »zweierlei Vergangenheit«). Solche sprachliche Nivellierung drückt das nationalsozialistische Jahrtausendverbrechen mit europäischer Dimension und annähernd 50 Millionen Toten auf die Ebene der von der sowjetischen Besatzung und der SED-Diktatur begangenen Verbrechen. Diese Waagschalen-Mentalität, mit der nationalsozialistischer Völkermord und Terrorherrschaft mit Verbrechen der SED-Diktatur aufgewogen werden sollen, führt zu einer Re-Nationalisierung des Gedenkens: alle – Deutsche wie übrige Europäer – waren Opfer, alle haben gelitten, alle verdienen unser Mitleid. Ursachen und Hintergründe der größten europäischen Katastrophe verschwimmen schließlich in einer Opfer und Täter, Ursache und Wirkung einebnenden Sprache.

Zweifellos haben die großen Aufklärungskampagnen seit den siebziger Jahren einen Bewusstseinswandel in der BRD bewirkt und nach 1989 auch in der ehemaligen DDR eingeleitet. Und sicher darf Deutschland heute insgesamt als gefestigte Demokratie gelten. Doch die untergründigen Nachwirkungen einer früh verweigerten Auseinandersetzung mit dem Erbe des deutschen Nationalsozialismus’ und dessen Einfluss auf die Familie als wichtigste Agentur der Aufklärung sind lange übersehen und unterschätzt worden. Wie der Sozialpsychologe Harald Welzer in einer großangelegten Studie über Tradierung von Geschichtsbewusstsein nachgewiesen hat, wandelte sich in vielen Familien durch einen Akt »kumulativer Heroisierung« der in NS-Verbrechen verstrickte Vater oder Großvater zum Widerstandskämpfer, was gleichzeitig zur Umdeutung und Legitimierung der eigenen Familiengeschichte führte. Dies zeitigte verfälschte historische Erinnerungen und auf die eigenen Bedürfnisse hin zurechtgebogene Geschichtsbilder. Für Harald Welzer gibt es kein anderes westeuropäisches Land, in dem die Kluft zwischen offizieller und inoffizieller Erinnerungskultur so groß ist wie in Deutschland.

Wie also erinnern? In erneuter Anlehnung an Montaigne und Nietzsche lautet eine weitere Antwort: Nicht nur kritisch gegenüber dem Gegenstand der Erinnerung, sondern auch kritisch gegenüber dem Erinnerungsprozess selbst. Notwendig ist eine kritische Distanz zu den Legitimationsbedürfnissen der eigenen Erinnerung und gegebenenfalls auch zu denen der eigenen Familie und des eigenen Volkes. Eine solche Einstellung kann zu handlungsorientierten Fragen führen wie: Was wurde in der eigenen Familie über die Zeit zwischen 1933 und 1945 erzählt – oder verschwiegen? Von welchen Rechtfertigungsabsichten wurden die Großeltern oder Eltern dabei möglicherweise geleitet? War man vielleicht selbst unwissend Teil eines idealisierenden Erinnerungssystems gewesen?

Werden »objektive« Geschichtsereignisse Teil des nach dem Legitimationsprinzip arbeitenden Erinnerungsapparates, dann unterliegen sie ebenso gefühlsmäßiger Einfärbung und selektiver Wahrnehmung wie Erinnerung selbst. Ist dies bei aller zugegebener Gefahr, die dahintersteckt, grundsätzlich und in allen Fällen abzulehnen? Wer sich mit dem nationalsozialistischen Jahrtausendverbrechen und dessen bis heute spürbaren Nachwirkungen beschäftigt, kommt nicht umhin, sich die Frage zu stellen: Lassen sich Mitfühlen, das heißt: partielle Identifikation mit den Opfern und Wahrung kritischer Distanz zum Gegenstand der Geschichtsschreibung vereinbaren?

Während der Debatte um die Errichtung des »Denkmals für die ermordeten Juden Europas« wurde eines deutlich: Der nationalsozialistische Massenmord an den Juden – und hier insbesondere an den deutschen Juden – wird heute von den meisten Deutschen so empfunden, als sei er nicht an Deutschen, sondern »nur« an Fremden verübt worden. Das Gefühl einer zivilisatorischen und kulturellen Selbstamputation und die daraus folgenden Phantomschmerzen würde aber voraussetzen, diese Menschen als Angehörige des eigenen Volkes, nämlich als Deutsche zu betrachten – nicht nur verbal als »jüdische Deutsche« oder »deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens«, sondern – bei aller Differenz – schlicht als Deutsche, die auch Juden waren (oder Juden, die auch Deutsche waren).

Dieser identifikatorische Akt geht über bloß verstandesmäßiges Erfassen hinaus und beinhaltet auch eine affektive Annäherung an dieses schwierige Thema als Voraussetzung für Empfindungen wie Trauer oder Verlust. Hier wird deutlich: wo man selbst in eine Geschichte wie die des Nationalsozialismus und seiner Folgen eingebunden ist, lassen sich Erinnerung und Historiografie, Gefühl und Verstand nicht eindeutig voneinander trennen. Stets gehen sie eine Verbindung ein, in der es nur schwerlich zu einem dauerhaften Gleichgewicht zwischen gefühlsgeleiteter Erinnerung und distanzierender Geschichtsbetrachtung kommen kann.

Wenn wir akzeptieren, dass es weder eine bequeme Abkürzung noch einen erlösenden Königsweg zu einer Erinnerung als absolut verlässlichen Träger historischer Inhalte und geschichtlicher Lehren gibt, werden wir auf dem Weg zur Beantwortung der Eingangsfrage »Wie erinnern?« sein. Je mehr wir dabei über Geschichte und deren selektive Übertragungsmuster in unsere Erinnerung wissen, und je mehr wir bereit sind, dieses Wissen auch kritisch und handlungsorientiert anzuwenden, desto erfolgreicher können wir unsere Erinnerung von eigenen Legitimationsbedürfnissen freihalten.

(Dr. Salomon Korn ist Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland)

Kontakt:
Jüdische Gemeinde Frankfurt am Main K.d.ö.R.
Westendstraße 43
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Tel.: 069-768036-0

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